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Auf dem Weg zum 100er.
Nachdem ich 2019 und 2022 in Biel gefinisht hatte, musste ich den Lauf 2023 abbrechen. Ich hatte mir wohl eine Lebensmittelvergiftung zugezogen, die ab km 25 so üble Bauchschmerzen auslöste, dass ich mich eine Stunde darauf aus dem Rennen nahm. Ich schaffte es nicht, die negativen Gedanken zurückzudrängen. Und wenn «es» am Lauf zu denken beginnt, wird es schwierig – vor allem, wenn man noch 8 Stunden und 70 km vor sich hat.
Schon in den folgenden Tagen - immer noch mit üblen Bauchschmerzen – ärgerte mich meine Aufgabe so sehr, dass ich eigentlich entschlossen war, noch einmal zu starten. Mit einem DNF wollte ich meine Langstrecken-«Karriere» nicht beenden.
Der Herbst 2023 brachte meinen ersten Backyard Ultra. Das Laufformat gefiel mir auf Anhieb und es war ein schönes Erlebnis, obwohl ich ziemlich unvorbereitet antrat. 7 Runden à 6,7 km laufen und dazwischen in Ruhe verpflegen. Obwohl ich nur 6 Wochen wieder im Training war, lief es mir gut. Langsam und weit laufen. Passt.
Ein regulärer Marathon im November hingegen war eine üble Schinderei und ich war drauf und dran in Zukunft keine längeren Strecken mehr zu laufen.
Meine Motivation fand ich dann bei einem weiteren Backyard in der Altjahreswoche wieder und tags darauf, an Silvester, meldete ich mich für Biel an.
Ich hatte genau 159 Tage um mich konkret auf den Saisonhöhepunkt «100km von Biel» vorzubereiten. Da ich 2023 aufgegeben hatte, beschloss ich bewusst kleine Details in der Vorbereitung zu ändern. Mein DNF nagte an mir. Eine weitere Aufgabe würde mich wirklich belasten.
Grundsätzlich hielt ich den RC-Marathonplan ein, verlängerte ihn, so dass ich ab Mitte Dezember jeden Monat einen 3 Stunden-Longjog oder einen längeren Wettkampf hatte.
Ich verzichtete zum ersten Mal seit Jahren auf den Kerzerslauf und startete dagegen an einem weiteren Backyard, wo ich 47 km in gemütlichem Tempo abspulte. Den 50er um den Bielersee liess ich in meinem Plan stehen – es ist ein so toller Lauf und die Distanz ist ideal für den «100er».
Auch Martin, mein Velocoach war wieder mit von der Partie - es brauchte keine grosse Überzeugung und ich war froh, ihn wieder zur Seite zu haben.
Ich wechselte meine Standart-Laufschuhe, plante für den Lauf eine etwas andere Taktik und schraubte hier und dort ein wenig an Details herum. Das hatte mehr mit meinem mentalen Setting zu tun als wirklich mit «anderen Trainings-Ansätzen».
Leider war in meinem Arbeitsplan der Freitag als anstrengender Tag vorgesehen. So war ich schon einigermassen müde, bevor ich Martin abholte. Mein Schrittzähler meldete schon 90% des Tages-Solls als erfüllt an. Ich konnte als Beifahrer dann ein paar Minuten schlafen, leider weniger, als ich gehofft hatte.
Wir tuckerten nach Biel, richteten uns auf dem Acker vor dem Startgelände ein und brieten uns eine Rösti (auch so eine Neuerung…)
Dann versuchte ich nochmal ein Auge voll Schlaf zu bekommen, bevor der Tross der Velobegleiter nach Lyss losfahren sollte und ich mich dann in die letzten Vorbereitungen stützte. Natürlich wie immer die Frage: was läuft mit mir mit, was nimmt der Velocoach mit. Lang oder kurz? Pulli oder Regenjacke?
Natürlich traf ich dann auch noch allerhand bekannte Gesichter und ich genoss es mit einigen Leuten zu schwatzen, bevor es langsam auf die 22.00 Uhr zuging.
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Die magischen 100 km
Punkt 22.00 Uhr wurde der Startschuss gezündet, das Feuerwerk abgebrannt, die Jungs von den Bienna Jets, der lokalen Football Mannschaft, gaben die Startline frei und irgendwo tönten auch noch die Toten Hosen mit «An Tagen wie diesen…» aus den Boxen. Ich hätte gerne mehr von dem Text gehört, der so gut zum 100er passt.
Zum ersten Mal war ich ohne Bekannte unterwegs, auch das ein Stück weit so geplant. Entsprechend startete ich schon kurz nach dem Start meinen Podcast, den ich in den letzten Longjogs und Ultras oft gehört hatte. Und etwa gleichzeitig zog ich meinen Pullover wieder aus. Es war in der Stadt noch viel zu warm, um damit zu laufen.
Die ersten rund 5 Kilometer führten ins Zentrum von Biel. Hier läuft man zwei Mal über den Zentralplatz. Es ist ein Hexenkessel an Stimmung. Jubel, Klatschen, Anfeuerung, Dutzende Kinder, die «low» Fives anbieten. Meine Schwester stand am Rand. Kurzer Boxenstopp und dann raus in die Nacht. Kurzer Schwatz mit Nicole, auch immer wieder an den gleichen Anlässen zu treffen.
Mit meinem Podcast erreichte ich dann ohne viel zu merken ich bald die Steigung nach Port. Auch hier: fantastisches Publikum. Man muss das mal erlebt haben, es passt nicht unbedingt zur an sich eher zurückhaltenden Schweiz… Danke euch allen!
Oben vergesse ich ganz den hübschen Blick zurück auf die erleuchtete Stadt. Der Podcast fokussiert mich nach innen. Genau mein Plan.
Dann runter Richtung Jäiss. Steil, ich versuche langsam zu gehen und Kraft zu sparen. Dann raus auf die Ebene (dieses Mal keine Nachtigall) und den langen Feldweg nach Kappelen genommen. Ich nenne ihn den Pfad der Glühwürmchen. Zwei schnurgerade Abschnitte von je ca. 1 km Länge. Wer sich umdreht sieht die Stirnlampen von hunderten von Läufern hinter sich - wer keine sieht, ist letzter ;-)
Nach einem weiteren Verpflegungsposten geht es von Kappelen durch den Wald nach Lyss. Definitiv meine Hass-Strecke, denn hier umläuft man das Städtchen Aarberg mit seiner Holzbrücke. Das war jeweils der absolute Höhepunkt an Stimmung für die Läufer. Liebes OK: wenn ich einen Wunsch frei hätte…
Lyss macht es aber auch ganz gut. Nachts um halb eins ist immer noch viel Betrieb. Hier stossen die Velocoaches zu den Laufenden. Martin ist schon bereit: ich bin nicht mal 1 Minute vor meiner persönlichen Marschtabelle. Podcast aus.
Wenig später steht ein Verwandter am Streckenrand und dann geht es immer weiter nach oben: hier bin ich aufgewachsen, kannte ich mal jede Ecke.
Die Strecke nach Grossaffoltern wurde etwas verändert. Gefällt mir gut, ausser dass man dann trotzdem einen unglaublich steilen Weg nach unten muss. Ich kann nicht abwärts rennen und mit doch langsam etwas müderen Muskeln ist auch gehen nicht so angenehm.
Doch bald folgen die eher flachen 10 km durch das Limpachtal bis zum Posten in Oberramsern. Ich bin zwar etwas müde, aber soweit ganz OK. 38 km geschafft, hier musste ich letztes Jahr aussteigen. Ich nehme mir 5 Minuten extra-Pause für Toilette, setze mich auf einen Wagen und esse etwas Salami (Neuerung…). Dann geht es raus in die Nacht, die Temperatur ist immer noch ok, aber wir schlüpfen in Pulli, resp. Martin in die warme Jacke.
Dann kommt eine halbe Stunde mit dauernden Aufstiegen und einem Abstieg. 280 m hoch, 140 m runter. Ich hasse es… Diesen Teil der Strecke hatte ich erfolgreich verdrängt. Und natürlich kommt es hier regnen. Ein paar Tropfen, dann mehr. Wir ziehen die Regenjacken an, aber 2 Minuten später ist der Spuk wieder vorbei.
Immerhin geht es dann lange 13 km langsam abwärts. Inzwischen muss ich regelmässig gehen. Meine Beine sind müde. Mein Kopf auch, es macht sich bemerkbar, dass ich gearbeitet habe am Vortag. Ich habe gelegentlich dein Eindruck, dass ich im Laufen schlafe; torkle ich oder scheint es mir nur so? Aber an sich bin ich gut unterwegs, sogar immer noch leicht schneller als geplant. Andererseits: in der Phase zweifle ich etwas. Wenn ich jetzt schon kaum mehr laufen kann? Wie kommt das dann bei km 70 oder so? Ich versuche es mit Podcast, aber dieses Mal nervt es nur. Ich rufe Musik in meinem Kopf ab. «Baba Yetu». «Sogno di volare». «Going home». Bis zu Kunz’ «Schritt für Schritt» komme ich aber nicht.
Es ist die Phase der Morgendämmerung. Meine Körperfunktionen, meine Stimmung, alles etwas sehr tief… Per Whatapp geht ein Hinweis an meine Frau: es könnte in Biel später werden als geplant. Ich rechne nicht damit, dass ich auch nur ansatzweise die Zeiten von 2019 und 2022 erreichen werde. Mittag ist unrealistisch.
So beschliesse ich in Kirchberg eine etwas längere Pause zu machen, schlimmstenfalls sogar kurz zu schlafen. Ungeheurer Aufsteller ist dann Arbeitskollege Stefan, der in der Nähe wohnt und von Martin aus dem Bett geklingelt wird. Robuste gute Laune, ein paar «nette» Sprüche. Meine Stimmung hebt sich unglaublich. Danke Stefu!
Ohne auch nur eine Sekunde geschlafen zu haben, aber dank der Pause einiges frischer geht es ab Kirchberg weiter. Es geht dem Emmendamm entlang. Die nächsten 10 km laufe ich – abgesehen vom Verpflegungsposten – durch. Ich überhole Dutzende von anderen. Hier scheint mein Mentaltraining voll aufzugehen. Wie oft habe ich mir diese Strecke vorgestellt. Laufen durch den Wald, der Emme entlang, rechts der Sonnenaufgang. Und genau so ist es. Ich habe ein Gefühl, als ob ich nur noch im Hier und Jetzt sei. Es läuft einfach. Martin als top-Begleiter merkt es. Und schweigt sinnvollerweise. Für mich passiert hier 100er-Magie. Ich weiss nicht, wo ich die Reserven hernehme. Die hatte ich bei km 50 nicht mehr.
Die 12 km hinter Biberist sind ein dauernder Anstieg. Mal schaffe ich es noch einen Kilometer zu laufen. Dann nicht mehr. Die Route ist auch hier etwas anders als in früheren Jahren. Wenigstens bleibt einem der sinnlose Schwenker durch den Wald unterhalb von Biberen erspart. Kann man so lassen… Dann wieder die Strassenquerung mit den gleichen Helfern. Wie jedes Jahr. Danke euch allen. Ihr macht den mit eurem Einsatz erst möglich aber mit unverwüstlicher guter Laune auch zu einem Vergnügen. Wenn ich nicht mehr laufen kann, muss ich mich als Helfer registrieren, nehme ich mir vor.
Kilometer 78, Verpflegungsposten, dann steil den Hügel hoch und dann lange runter nach Arch. Teilweise kann ich laufen, teilweise versuche ich zu gehen, um meine Muskeln zu schonen. Ich denke an viele Bekannte. Geniesse das Privileg, gesund zu sein und laufen zu dürfen. Hänge Gedanken nach.
In Arch ging es mir auch schon schlechter. 2 Minuten sitzen in der Bushaltestelle. Dann immer flach der Aare entlang. Die Sonne hat inzwischen doch schon Kraft, aber bis Büren ist es meist schattig. Verpflegungsposten in Büren, kurz zwickt mein Knie, ich kann aber wieder loslaufen. Wobei das noch 200 oder 300 m am Stück sind, dann ist die Energie alle. Ich versuche 60 Atemzügen zu laufen. Die Kilometer auf meiner Uhr scheinen sich kaum zu bewegen. Kurzer Regenschauer, aber auch hier hat es sich nicht rentiert, die Jacke anzuziehen. Getan haben wir es trotzdem…
Kurzer Aufstieg und dann sind wir im Wald, der uns mehr oder weniger nach Biel begleitet. Auch wenn es nicht allzu heiss ist, es ist doch angenehm im Schatten zu laufen. Zu gehen.
Letzter Verpflegungsposten bei km 95. Dann wird jeder Kilometer zurückgezählt. Ich habe 43 Minuten für die letzten 5 Kilometer. Könnte ich normal joggen, würde ich meine Bestzeit locker knacken. Martin versucht mich anzufeuern. Ich weiss noch nicht mal, ob mich das nervt oder motiviert. Ich bin einfach leer. Visualisiere das Ziel. Zähle 60 Atemzüge. Überhole x-mal die gleichen Läufer und lasse sie x-mal wieder ziehen.
Kilometer 99. Diese Tafel ist legendär. Für mich es das persönliche, intime Ziel. Die Gewissheit es zu schaffen. Weiter. 2 oder 3 x anlaufen noch. Das Ziel ist in Sichtweite. Über die Strasse. Etliche Autofahrer hupen: ich glaube es ist Anerkennung, nicht Ärger. Um die Ecke. Noch 400 m. Dann steht meine Frau am Strassenrand, die Nummer wird abgelesen, man wird mit Namen begrüsst, unglaublich viel Applaus. Die letzten Meter. Ich weiss genau: für diese Meter, für diesen Jubel, für genau dieses Gefühl von Stolz habe ich stundenlang trainiert, habe ich mich 13 ½ Stunden lang vorwärtsbewegt. Die Ziellinie. Pures Glück. Danke Martin, dass du bei diesem Abenteuer dabei warst.
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Danach
Die offizielle Zielzeit sagt 13:35:25. Damit bin ich 10 Sekunden schneller als 2019 und gut 7 Minuten langsamer als 20. Das sind Abweichungen von unter 1%. Kommt mir auch absolut nicht drauf an. Ich bin im Ziel und es ist noch nicht einmal Mittag. Alles unter 14 Stunden hatte ich persönlich als vollen Erfolg angesehen.
T-Shirt und Medaille. Und am wichtigsten: das Gefühl, es geschafft zu haben. Stolz. Und ein wenig Erleichterung, dass es nicht noch ein paar Kilometer mehr sind…
Ich bleibe nicht allzu lange in den aufgestellten Gartensofas sitzen. Zu gross die Gefahr, dass ich nicht mehr aufstehe.
Ich gehe duschen. Die Dusche ist nur über eine lange Treppe zu erreichen. Ich verfluche den Architekten bei jeder Treppenstufe. Und nach der Dusche auf dem Weg nach unten noch mal. Aber das geht allen Finishern so. Man grinst den Schmerz weg.
Wir essen eine Pasta, dazu ein alkohlfreies Bier. Die Pasta schmeckt mir gar nicht. Meine Beine schmerzen. Und ich habe mal wieder einen heiklen Magen, wie immer noch langen Läufen.
Dann ins Auto. Ich schlafe bevor wir noch recht vom Gelände weg sind. Und wache auf, als wir bei Martin zuhause sind. Und schlafe wieder, kaum sind wir bei ihm losgefahren.
Daheim heisst es etwas aufräumen, dann versuche ich wach zu bleiben, schlafe aber über den Gratulations- Whatsapps ein.
Am Sonntag – Traditionen soll man ehren – geht es ins Spa und in die Massage. Vor 5 Jahren erlebt ich da die ganze magische Nacht der Nächte noch einmal nach. Dieses Jahr ist es angenehme Leere.
Ansonsten keine grossen Blessuren. Müde aber zufrieden. Etwas mühe, in Bewegung zu kommen. Aber keine Schmerzen.
Auf die mehrfach gehörte Frage, ob ich wieder starten werde, kann ich nur eine ehrliche Antwort geben: ich weiss es nicht. Wenn ich an die ersten 25 km denke: unbedingt. Morgens den Emmendamm runtertraben: jederzeit. Der Zieleinlauf? Unbeschreiblich. Die Teile dazwischen: naja, müsste nicht sein. Aber die Magie vom Start und vom Ziel kommt nur zustande durch den Kampf dazwischen. Daher: «wer weiss?»