Manuel Ernst
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Post #9 of 9

Vielen Dank Andreas, Michael und Hansruedi für diese eindrücklichen Berichte!

Eigentlich war der 100er von Biel nie eines meiner Ziele. Aber eure Berichte machen wirklich neugierig auf diesen aussergewöhnlichen Lauf. Wäre so etwas für mich auch mal etwas? Vielleicht nicht kurzfristig aber mittel- oder langfristig. Irgendwie scheint da etwas in meinem Hinterkopf zu verfangen...

Im Grunde beschreibt ihr ja nicht nur die guten Momente sondern auch die Schwierigkeiten und das Leiden sehr anschaulich. Aber als Läufer kann - und muss man gelegentlich auch - ganz gut ausblenden und verdrengen ;-)

Herzliche Gratulation nochmals Andreas, Michael und Hansruedi und ganz gute Erholung!

Ilse Schmitz
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Post #8 of 16

Ein super toller Bericht, vielen Dank,

vielleicht schaffe ich es irgendwann auch mal nach Biel, jedenfalls macht der Bericht Lust darauf.

Gute Erholung

Ilse

Martin Dummermuth
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Post #5 of 14

Lieber Andreas, Michael & Hansruedi

Besten Dank für eure im positiven Sinne aufwühlenden Berichte. Mir kamen bei den Schilderungen sogar als Aussenstehnder mehrmals die Tränen! Und trotzdem können eure Zeilen wohl nicht nur annähernd beschreiben was ihr erlebt, gelitten und gefühlt habt.

Ja, ihr dürft und müsst unbedingt stolz sein auf das Geleistete. Ich bewundere euch für diese allesamt grandiosen Leistungen!

Aber ich gratuliere euch insbesondere auch für euer literarische Fertigkeiten. Eigentlich sah mein Abendprogramm etwas anders aus, aber euer Berichte packten mich derart, dass alles andere nebensächlich wurde! Eindrücklich wie ihr eure Höhen und Tiefen beschrieben habt. Toll auch immer diese Prise Ironie und Humor zwischen den Zeilen. Gefallen hat mir auch, wie ihr die Solidarität zwischen den Läufern beschrieben habt. Das klingt wirklich sehr verführerisch.........wenn da nur die 100 km nicht wären.......und das meiste leider auf Hartbelag!

Ich wünsche euch allen eine gute Regeneration und dass all eure Blessuren möglichst rasch wieder ausheilen. Es würde mich freuen, wenn wir uns an einem anderen Lauf mal wieder sehen könnten!

 

 

 

Andreas Mani
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Post #9 of 9

100km von Biel aus meiner Perspektive

„Pack Deine Sachen für den Lauf am Vortag“ ..... einer von vielen gut gemeinten Tipps für die Vorbereitung für einen Lauf..... Ja aber wenn doch der Lauf erst um 22:00 startet habe ich doch genügend Zeit? Zeit schon, aber eben.... Immerhin machte ich mir am Vortag eine detaillierte Packliste in der Überzeugung, noch voll bei Sinnen zu sein.
Am Freitag konnte ich meine Arbeit so einrichten, dass ich am Nachmittag zu Hause herumtigern und in Ruhe meine Sachen packen und die Familie nerven konnte. Die Jüngere Tochter packte derweil ihre Sachen fürs Pfadilager und meine Frau stand uns mit stoischer Ruhe zur Seite. Offenbar war ich um diese Zeit schon in einem Tunnel, jedenfalls wurde es plötzlich Zeit fürs Henkersmahl (Gschwellti, Hüttenkäse und ein wenig Bündnerfleisch) danach legte ich mich noch kurz hin, bevor mich meine Frau an den Bahnhof fuhr. Im Normalfall liegt der Bahnhof rund 3 Gehminuten von unserem Zuhause entfernt aber rund 10 Minuten vor der Abfahrtszeit beschlich mich das Gefühl, ich könnte den Zug verpassen. Meine liebe Gattin meisterte auch diese Situation mit Engelsgeduld, und lud mich 5 Minuten vor Abfahrt am Perron ab. Die Zugfahrt verlief sehr angenehm. Meine Gedanken galten meinem Material. Habe ich alles? Schon bald musste ich feststellen, dass ich schon am Vortag beim Packliste schreiben nicht mehr zurechnungsfähig war.... so musste ich noch Kompressionsstulpen, ein Badetuch und eine Zahnbürste kaufen, auf die Ärmlinge verzichtete ich. Nachdem ich alles besorgen konnte stellte sich bei mir angenehme Lockerheit ein. Ich interpretierte meine Zerstreutheit als gutes Omen für den Lauf.

Im Festzelt traf ich noch einige Leute an, welche ich von Strava (Hansruedi und Michael) und aus dem „richtigen“ Leben kannte. So konnte die letzte kurze Wartezeit bis zum Start an der Trockenheit überbrückt werden. Es stellte sich heraus, dass wir uns alle etwa die gleiche Renntaktik zurechtgelegt hatten und so stellten sich Hansruedi und ich ganz weit hinten im Starterfeld auf. Michael war wohl etwas weiter vorne.

Nach dem Start versuchten wir also unsere Pace von rund 6:30 zu treffen, was uns wohl mehr oder weniger gut gelang. Da ich ohne Linsen lief, konnte ich die Zahlen auf meiner Garmin Uhr nicht lesen und ich musste mich auf mein Gefühl verlassen. Hansruedi’s Uhr lieferte aufgrund des Stromsparmodus auch eher unrealistische Werte, worauf ich beschloss die Uhr mal nicht gross zu beachten.

Kurz nach dem Rotonde-Kreisel stiessen wir auf Michael und so konnten wir endlich ein paar Worte jenseits Social Media wechseln. 

Bereits bei der ersten Steigung in Port trennten sich aber unsere Wege schon wieder. Michu wollte die Steigung joggen –ich wollte meine Energie bewusst sparen –so verabschiedeten wir uns –man sähe sich ja wahrscheinlich wieder. So nahm ich den Jäissberg und den Römerweg bis Kappelen mit Hansruedi unter die Füsse und wir freuten uns auf die Stimmung, welche uns in Aarberg und Lyss erwarten würde.

Kurz nach Aarberg verabschiedete ich mich von Hansruedi. Ich hatte eine Einladung zu Kaffee und Kuchen am Streckenrand bei Känels. Nach 5-10 Minuten nahm ich den Lauf frisch gestärkt wieder auf. Nun lief ich natürlich unter langsameren Läufern und konnte somit dauernd überholen. Nachdem die Steigungen nach Lyss abgearbeitet waren bereitete ich mich auf das gefürchtete Limpachtal vor. Letztes Jahr hatte ich hier meine erste mentale Krise. Das Tal wollte nicht enden und ich sehnte mich nach dem Richtungswechsel gegen Mülchi. Dieses Jahr war es anders. Das Limpachtal flutschte nur so unter meinen Füssen weg. Unterwegs stiess ich wieder auf Hansruedi, der inzwischen seinen Velocoach bei sich hatte. Wir wechselten ein paar Worte und da er meine Pace nicht mitgehen wollte verabschiedete ich mich auf wiedersehen.

Unmittelbar nach dem Abbiegen in Oberramsern kam nun jedoch bei mir ein erstes Loch. Ich blieb aber besonnen und marschierte bis Mülchi. Die Steigung bis Etzelkofen wollte ich sowieso gehend zurücklegen. Bei der Verpflegung stand plötzlich Hansruedi wieder hinter mir, so gingen wir die letzte Steigung bis in den Wald oberhalb Grafenried zusammen.

Hier begann mein Lieblingsabschnitt. Bald kam Jegenstorf und ich freute mich auf den nächsten Zuckerschub von einem der zahlreichen, bestens bestückten Verpflegungsposten mit Ihren gutgelaunten Helfern. Dort entdeckte ich Michu, auf einer Treppe sitzend, die Schuhe ausgezogen. Er wirkte grad ein wenig ratlos. Ich konnte nichts anderes tun, als ihm gutes zu wünschen und mich zu verabschieden. Ab hier bis Kirchberg habe ich kaum mehr Erinnerung an die Strecke. Ich passierte die 50km Tafel und als ich in Kirchberg ankam kündete der Speaker gerade den Zieleinlauf des Siegers an. Also musste das ca. 05:00 Uhr gewesen sein. Nach ausgiebiger Verpflegung inklusive einem Gel mit Espresso-Aroma machte ich mich auf den Weg Richtung Gerlafingen. Auf diesem Streckenabschnitt gab es plötzlich ungewöhnlich viel Platz. Einerseits waren keine Velobegleiter mehr da, die 56km Läufer waren alle nicht mehr unterwegs und die Strecke führte neu nicht mehr über den Emmendamm sondern auf angenehmen Nebenstrassen durch ruhige Häusergruppen. Bald lief ich auf ein 2er Gespann auf, welches sich bestens unterhielt. Es stellte sich heraus, dass Marc (einer der beiden) ein passionierter Ultraläufer ist, welcher auch schon an 24Stundenläufen teilgenommen hat. Dieses Jahr platzierte er sich beim Bielersee Ultra XXL (4x um den Bielersee) auf dem 2 Platz. Er musste jedoch feststellen, dass er wohl noch nicht komplett von diesem Lauf erholt war und musste gerade ein wenig kämpfen. Trotzdem liefen wir flott weiter in einer 06:15er Pace. Bei der Verpflegung unter der Brücke in Bätterkinden wollte ich nicht so lange Pause machen wie die zwei anderen und machte mich bald wieder auf den Weg. Hier erfuhr ich auch, dass es offenbar Hansruedi nicht so gut gehe, sein Velobegleiter wollte ihn hier wohl punktuel treffen und unterstützen. Es tat mir aber gut zu hören, dass er wohl nicht allzuweit hinter mir war.

In Gerlafingen wartete nun meine Velobegleitung (Martin) auf mich. Endlich konnte ich mich von meiner Trinkweste befreien und ein frisches T-Shirt anziehen. Irgendwie war es aber auf den ersten paar Kilometer ein wenig eine Mentale Umstellung für mich. Bald waren aber die unnötgen Gedankengänge beiseite gelegt und Martin hat mich in ein Gespräch ganz ausserhalb vom Laufen eingewickelt. So gingen auch die nächsten 10km relativ zügig und abwechslungsreich von statten. Das lange stetig leicht ansteigende Biberental und der anschliessende Aufstieg machten mir keine grossen Sorgen und auch der harte Abstieg bis Arch ging erstaunlich gut. 

Letztes Jahr hatte ich aber ab hier grössere mentale Probleme; nicht einmal mehr 20km und erst noch flach sollte doch wirklich keine grosse Herausforderung mehr sein für einen Langstreckenläufer.... ich war auf alles vorbereitet. Aber Martin fand immer wieder die richtigen Worte. Bis Büren gings zügig weiter und hier wartete ein Bürogspänli auf mich mit einem Berliner. Eine kleine Sternstunde für die letzten 13km. Nun wurde der Lauf auch plötzlich für mich noch schwierig. Ich nervte mich über einen engegenkommenden Autofahrer, welcher nicht von seiner Linie abweichen wollte.... dabei ist die Strasse nach der Brücke in Büren genügend breit. Ich musste also ausweichen. Wenn man frisch ist kann man einem das verzeihen. Mir entglitt das A-Wort. Die Strasse ist hier sehr uneben und und hat Spurrinnen. Einem ermüdeten Läufer kann dies sehr unangenehm sein. Bald darauf wurde ich vom bösen Sauhund übermannt. Ohne gross zu diskutieren machte er sich in mir breit und kurz nach der 90km Tafel zwang er mich zu gehen. Ich probierte immer wieder zu Joggen aber es ging immer nur für ein paar hundert Meter. So machte ich mit ihm einen Deal: Du Schweinehund kannst bei mir bleiben bis zur 96km Tafel, danach werde ich dich abschütteln und ins Ziel rennen. Ich wusste nicht, ob er es begriffen hatte, aber bei der Tafel nahm ich meinen Mut in die Beine und versuchte zu Joggen....und siehe da, es ging. Martin rechnete mir dauernd vor wieviele Stadionrunden es noch sein werden. Ich kann Dir sagen: auch nur 3 Runden können sich nach viel anhören. Trotzdem hob sich meine Stimmung wieder je näher ich dem Ziel kam. Nach der letzten fiesen Abzweigung nach Km99 konnte ich mich definitiv von allen negativen Gedanken befreien. Die Schmerzen der grossen Blase am Zeh waren vergessen und die Vorfreude auf den Zeileinlauf wurden sehr konkret. Als der Speaker noch meinen Namen aufrief, riss ich die Arme in die Höhe und jubelte. Ich applaudierte den applaudierenden und ein Gefühl von Dankbarkeit und Stolz erfüllte mich.

Nach der Dose Alkoholfrei begab ich mich in Richtung Garderobe. Die Treppen zur Dusche im UG und der anschliessende Aufstieg in die Massage waren wie letztes Jahr eine lustige Herausforderung. Eigentlich sollte man hier mal eine Kamera einrichten, welche das Geschehen ins Festzelt überträgt ;-)

Oben auf der Tribüne der Turnhalle angekommen wurde ich bald als nächster zur Massage aufgerufen. Neben mir kam bald ein gewisser Marc zu liegen –er war immer noch sehr gesprächig.... lustig, man begegnet sich immer mindestens 2 Mal in Biel.... und die Chance steigt, wenn man das Zitat von Werner Sonntag etwas anpasst: „mindestens einmal musst Du nach Biel“. Ich jedenfalls freue mich auf neue Geschichten in der Nacht der Nächte.

Als dann die WhatsApp Nachricht von Hansruedi kam, dass er gefinisht hat und ich Michu noch kurz im Festzelt traf, war meine kleine Läuferwelt vollkommen und ich genoss ein kühles Bier für mich ganz alleine.

Stefan Müller
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Post #9 of 10

Vielen Dank für Eure sehr interessanten Berichte. Seit ca 10 Jahren schwirrt mir der 100 er in Biel im Kopf rum und hab mich noch nicht dran getraut. Eure Berichte machen Lust darauf. Aber die mentalen Tiefs während einem solchen Lauf machen mir Angst und ich habe höchsten Respekt vor Euch. 

Michael Rothen
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Post #10 of 16

Rückblick auf den München Marathon

München ist eine Stadt, die ich schon oftmals besucht habe und die auch für meinen Vater immer wieder eine besondere Anziehungskraft besass. So erfüllte es mich mit besonderem Stolz, begleitete er mich im Oktober 2018 zu meinem Abenteuer „München Marathon“. Insgeheim hoffte ich, dass ich ihn beim Zieleinlauf im Olympiastadion erblicken würde und ich die letzten Meter mit ihm laufen kann. Als Dank für das, was er immer leistet und auch als Wertschätzung, wie stolz ich auf ihn bin. Doch leider ist es dazu nicht gekommen. Einerseits war das Timing schlecht und andererseits war es nicht möglich, andere Leute auf die „Ehrenrunde“ im Olympiastadion mitzunehmen.

Der Entschluss / Kapitel 1

Nach der Analyse des München Marathons bestärkte mich das Gefühl, dass mir längere Distanzen (> Halbmarathon) einfach nicht behagen. Bis zum Halbmarathon konnte ich meine Zeit ziemlich genau vorhersagen und durchziehen. Aber alles, was weiter als 30 Kilometer geht macht mir Sorgen. Einerseits ist das darauf zurück zu führen, dass ich solche Distanzen noch zu wenig gut kenne. Und andererseits habe ich einen Riesen-Respekt vor dieser 42 Kilometer-Marke. Was also tun?

Für das Jahr 2019 entschloss ich mich, mehr Longjogs ins Training einzustreuen, dafür weniger Wettkämpfe abzuhalten. Vielleicht auch ganz auf Marathons zu verzichten, so dass ich 2020 dann auch auf längeren Strecken das komplette Leistungsvermögen abrufen kann.

Im Dezember 2018, während dem Erstellen meiner 2019er-Saisonplanung fiel mir ein Datum besonders ins Auge: der 07. Juni 2019. Die Bieler Lauftage standen dann auf dem Programm. Mein erster Gedanke, den 100er zu absolvieren, verwarf ich ziemlich zügig wieder. Nein, nie und nimmer. Aber warum nicht trainingshalber den 56 Kilometer-Ultramarathon absolvieren? So plante ich meine Laufevents um diesen Tag herum, mit der vollen Absicht, den 56er zu absolvieren.

Je länger der Januar dauerte, desto mehr verfiel ich in den Gedanken, doch den 100 Kilometer-Lauf zu absolvieren. Ich informierte mich länger über diesen Lauf, ich besuchte Homepages, las mehr und mehr Rennberichte. Das Buch von Werner Sonntag „Einmal musst du nach Biel“ war mir natürlich schon vorher bekannt. Aber mit so wenig Lauferfahrung wie ich habe, traute ich mir diesen Lauf einfach noch nicht zu. Doch dann war es schlussendlich doch soweit. Ich entschloss mich, den 100er absolvieren zu wollen. Aber immer mit der Absicht, mal zu schauen, wie weit ich komme. Es gab ja unterwegs an der Strecke genügend Ausstiegspunkte. Und so weiss ich dann immerhin, was mir noch fehlt, um einen solchen Lauf zu finishen.

Die Begeisterung meiner Frau hielt sich in engen Grenzen, trotzdem hat sie mich im Beschluss unterstützt. Immerhin konnte ich sie insofern beruhigen, als dass ich ihr versprach, den Lauf nur mit Fahrradbegleitung zu absolvieren. Auch die Velo-Begleitung ist an diesem Event einer ziemlich hohen Belastung ausgesetzt. Dies nicht unbedingt im leistungstechnischen Bereich. Sondern was das mentale angeht. Eine Fahrradbegleitung ist Motivator, Gepäckträger, Begleitperson und auch Informant gegenüber der Familie. Für mich war schnell klar, wen ich für dieses Unterfangen anfragen will: Sandra

Sie ist eine, die für mich die richtigen Worte findet, die weiss, wie man mich motivieren kann und mich schon sehr gut kennt. Zusammen haben wir schon Hochs und Tiefs erlebt.

Am 07. Februar, bei einem Abendessen im Grissino Bern, ausgerüstet mit einer PowerPoint-Präsentation habe ich ihr dann den Lauf und mein Vorhaben vorgestellt. Sie war schon leicht vorgewarnt – trotzdem kam ihre Zusage ohne zu Zögern oder zu überlegen. So war auch der Teil „Velobegleitung“ zur vollsten Zufriedenheit abgedeckt.

Die Trainingsmonate Februar/März/April vergingen. Die Formkurve stieg an. Die Vorbereitung war soweit prima. Auch gemeinsame Trainings mit Sandra standen auf dem Programm, wo wir 30-Kilometerläufe zusammen abspulten. Sie auf dem Fahrrad, ich zu Fuss daneben. Für mich war es sehr ungewohnt, plötzlich Befehle zu erteilen, was ich nun zu essen oder zu trinken wünsche. Aber nur so konnten wir uns an diese Situation gewöhnen.

Wir hatten das Glück, die Lauftrainings nicht bei eitel Sonnenschein durchzuführen. Einmal war es eisig Kalt (jedenfalls für Sandra auf dem Fahrrad) und auch bei Sturm und Regen waren wir unterwegs. So konnten wir auch bei Schlechtwetter unsere Erfahrungen sammeln.

Die Bieler-Laufstrecke fuhren wir auch gemeinsam mit dem Auto ab. Wir konnten dadurch wertvolle Erfahrungen oder Hinweise sammeln, welche uns beim Lauf sicherlich dienlich waren.

Der letzte Monat / Krisensituationen

Anfangs Mai spürte ich an der linken Kniescheibe ein Ziehen und Stechen. Genau so war es auch letztes Jahr, als ich danach für 10 Wochen pausieren musste. „Dank“ diesen Erfahrungen konnte ich schnell reagieren. Durch das gesteigerte Lauftraining war die Balance zwischen Rumpf-/Stabi-Training und Lauftraining nicht mehr optimal. Der Quadrizeps-Muskel machte sich bemerkbar. Trotzdem wollte ich am Wings for Life World Run starten. Dieser Lauf war für mich so etwas wie eine kleine Hauptprobe, um wettkampfmässig eine längere Distanz zu laufen. Bei der Laufplanung anfangs Jahr errechnete ich mir eine mögliche Zieldistanz von ca. 30 Kilometer. Der Wings for Life World Run zeichnet sich dadurch aus, dass dieser Lauf keine fixe Ziellinie hat, sondern dass man solange vor dem Catcher Car läuft, bis das Auto die Läufer einholt.

Zwei Wochen vor dem Wettkampf, als ich mir die Strecke auf der Homepage anschauen wollte, stellte ich fest, dass das Catcher Car mit einer neuen, schnelleren, Geschwindigkeit fährt. Ich redigierte meine Ziele und errechnete mir eine mögliche Zieldistanz von 25 Kilometer.

Am Sonntag morgen, aufgewacht in einer Schneelandschaft und bei Kälte, überlegte ich nochmals, ob ein Start wirklich sinnvoll sei. Mein Knie machte sich halt doch bemerkbar. Trotzdem fuhr ich nach Zug und absolvierte den Lauf. Bis Kilometer 21 war ich mehr als im Fahrplan, ich war meiner Zeit effektiv voraus. Jedoch konnte ich vor lauter Schmerzen kaum mehr laufen. Aufgeben? Nur noch laufen? Nein, das kann es auch nicht sein. Ich biss auf die Zähne und versuchte irgendwie mein Tempo zu halten. Mein Schnitt von 4:40 min / km konnte ich nicht halten. Die Pace sank und ich lief im tiefen 05:00er Bereich. Die 25-Kilometer-Marke war erreicht. Das persönliche Ziel war erfüllt, alles was jetzt noch kommt ist Zugabe. Doch das Auto wollte einfach nicht auftauchen. Die weiteren Kilometermarken passierte ich auch noch, bis ich plötzlich das 30-Kilometer-Schild erblicke. Auch dieses passierte ich noch, doch nun war es bald soweit. Nach 30.3 Kilometer war mein Lauf zu Ende. Überholt vom Auto. Eine grosse Zufriedenheit über die Leistung machte sich breit. Aber die Schmerzen im Knie wurden stärker und stärker. An den nächsten Tagen war an ein Lauftraining nicht zu denken. Meine Ängste, dass ich den 100er verletzungsbedingt absagen muss, wurden grösser.

So meldete ich mich zur Physiotherapie an. Ich rechnete mit dem Schlimmsten. Die Physiotherapeutin drückte an meinem Knie herum und konnte den Schmerz sehr genau lokalisieren. Wie erleichtert war ich, als ich hörte „1 Woche Trainingspause, dann sollte das gut kommen“. Auf den Start am GP Bern musste ich verzichten. Dieser Entscheid fiel mir zwar schwer, aber schlussendlich müssen Prioritäten gesetzt werden.

1 Woche später schnürte ich die Laufschuhe. Die Schmerzen im Knie waren zwar noch da. Aber ich habe mir in der Zwischenzeit eine Kompressionsbandage zugelegt. Mit dieser konnte ich das Knie stabilisieren. Langsam stieg ich wieder ins Training ein. An Longjogs waren jedoch nicht mehr zu denken. So fehlten mir im Training zwei lange Läufe, welche ich noch absolvieren wollte. Meine Taperingphase habe ich also auf 4 Wochen ausgedehnt. Der Formstand war entsprechend nicht mehr so ideal. Dies führte unweigerlich auch zu einer Stimmungskrise.

Mein Knie habe ich ab und an noch gespürt. Aber für mich war klar, das muss gehen. Irgendwie. Zumal die Schmerzen nicht mehr stärker wurden. Vom Knie her hatte ich also das Gefühl, dass dies klappt. Eine Woche vor dem Bieler legte es mich dann noch ins Bett mit einer Magen-Darm-Grippe und entsprechendem Fieber. Mein Körper gab mir also zu verstehen, dass er sehr wohl eine Pause braucht. Diese wird er auch bekommen, aber erst nach den Bieler Lauftagen. Die letzten Nächte versuchte ich so viel Schlaf wie möglich zu erhalten. Erstaunlicherweise gelang mir das sehr gut. Mein Umfeld empfand ich beinahe nervöser als ich. Und dann war es endlich soweit.

Michael Rothen
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Post #9 of 16

Die Nacht der Nächte / Vor dem Start und Kilometer 1 – 21

Der Wetterbericht hat für die ersten Rennstunden leichten Regen vorausgesagt. So kommt es dann auch. Kurz vor 21.30 Uhr fängt es an zu regnen. Ich verabschiede um 21.30 Uhr Sandra und Michu, welche mit dem Polizeikorso von Biel in Richtung Lyss fahren.

Zum Glück kann Sandra dort in die warme Stube und sich nochmals aufwärmen.

Ich gehe nochmals in Festzelt, treffe dort Andreas und Hansruedi. Die beiden strahlen eine Ruhe und Sicherheit aus. Die beiden habe ich über running.coach kennengelernt. Die beiden haben eine gesunde Einstellung zum Laufen und ich bin froh, bin ich bei Ihnen in guter Gesellschaft und lasse mich nicht noch verrückt machen.

Nachdem ich nochmals die Toilette aufgesucht habe begebe ich mich zur Startlinie. Ich gehe absichtlich ins hintere Drittel. Um Punkt 22 Uhr ist es dann soweit. Der Startknall ertönt. Langsam, ganz langsam komme auch ich zum Startbereich, wo die Zeit gestartet wird. Man spürt kein Gedränge, wie an anderen Laufevents üblich. Ist ja auch normal. Noch selten hat sich wohl ein 100-Kilometerlauf auf den ersten Metern entschieden, zumal das Ankommen das Ziel ist.

Die ersten Kilometer durch Biel sind durch die Strassenlaternen hell erleuchtet. Am Strassenrand stehen Zuschauer. Kinderhände warten darauf, abgeklatscht zu werden. Es ist eine spezielle Atmosphäre, etwas entspanntes macht sich in mir breit. Mein Gefühl sagt mir, dass ich ideal gestartet bin. Ich prüfe meine Uhr. Der Puls ist zu hoch, die Pace stimmt. Dass der Puls zu hoch ist schiebe ich auf das Rennen und die eventuell doch vorhandene Anspannung. So laufe ich weiter in diesem Tempo. Plötzlich höre ich jemanden meinen Namen rufen. Hansruedi und Andreas tauchen von hinten auf. Die nächsten Kilometer laufe ich mit ihnen. Wir plaudern ein wenig und so vergeht die Zeit wie im Flug. Wir stehen vor der ersten grösseren Steigung in Port. Mein Ziel für den 100er ist es, so viel wie möglich zu laufen. Am liebsten die gesamten 100 Kilometer. Andreas, welcher den Lauf zum zweiten Mal absolviert hat eine andere Taktik ausgesucht. So trennen sich unsere Wege. Ich weiss schon jetzt, dass wir uns früher oder später auf der Strecke sowieso wieder sehen werden. Nachdem der Anstieg und der darauf folgende Abstieg nach Jens geschafft sind folgt ein längeres Teilstück, welches ohne Zuschauer stattfindet. Ich schalte meine Stirnlampe ein und laufe ein gleichmässiges Tempo von knapp über 6:30 min/km. Ich bin absolut im Zeitplan. „Nur noch 88 Kilometer“. Ich habe das Gefühl, dieses Tempo könnte ich ewig laufen. Es fühlt sich einfach toll an. Schon bald überholt mich die Spitze des Halbmarathon Laufs, welcher in Aarberg endet.

Ich erreiche Kappelen. Die grosse Zuschauermenge steht nicht am Strassenrand. Aber ein mir vertrautes Gesicht. Markus steht an einer Kreuzung. Es freut mich sehr, ihn zu sehen. Ich klatsche kurz ab und laufe weiter. Bis Aarberg ist es nicht mehr weit.

Ich passiere die Holzbrücke und laufe ins Städtli. Es hat noch zahlreiche Zuschauer am Strassenrand, welche klatschen. Kurz vor dem Städtli-Ende höre ich meinen Namen. Ramona und Fabrice stehen dort, mit selbst gemachten Schildern feuern Sie mich an. Was für ein Gefühl. Und erst jetzt sehe ich, dass die beiden nicht alleine da stehen. Roland, Gabi und mein Vater sind auch dort, alle haben Schilder in der Hand, motivieren mich und feuern mich an. Was für ein tolles Gefühl. Irgendwie bin ich total im Tunnel drin und laufe weiter. Es kam mir nicht in den Sinn, kurz anzuhalten und „Hallo“ zu sagen. Ich habe ein schlechtes Gewissen. Doch dafür ist es jetzt zu spät. Aber dass alle fünf fast bis Mitternacht ausgeharrt haben, das bedeutet mir sehr viel.

Mittlerweile sind über 21 Kilometer absolviert. Ich nähere mich Lyss, wo Sandra auf mich wartet. Der erste Halbmarathon ist geschafft. Vom Zeitplan her bin ich voll im Soll. Vom Gefühl her ist alles prima. „Nur noch 79 Kilometer“. Mir geht es super. Trotzdem freue ich mich auf die Begleitung, welche am vereinbarten Ort bereits auf mich wartet.

Kilometer 22 – 48 / Die Achterbahnfahrt beginnt

Von Lyss bis nach Grossaffoltern sind drei mir wohlbekannte Steigungen zu absolvieren. So kann ich diese gut einteilen. Weiter gehts durch Grossaffoltern. Durch den Schein der Stirnlampe scheint mir, als würde der Regen stärker werden. Aber ich habe das Gefühl, ich werde nicht nass. Selber spüre ich die Tropfen nicht. Sandra zieht sich warme Kleidung an. Die Kälte der Nacht macht sich langsam bemerkbar.

Vor den nächsten Kilometern habe ich Respekt. Es geht ziemlich unspektakulär über Felder, dem Waldrand entlang bis nach Oberramsern. Ich werde ein klein wenig langsamer, die Kilometerzeiten tendieren eher gegen 07:00 min/km. Kein Grund zur Sorge. Ich fühle mich noch gut. Irgendwie. Wir treffen einen Läufer aus Birsfelden. Sandra beginnt mit ihm zu reden. Er erzählt, dass er den 100er bereits mehrfach absolviert hat. Und vor zwei Wochen sei er beim 24-Stunden Rennen in Basel am Start gewesen. 

Jetzt nachträglich schaue ich seinen Jahrgang an: 1954! Den Bieler beendete er schlussendlich in 12 Stunden und 41 Minuten. Was für eine Leistung. In seiner Alterskategorie wurde er 4. Und das 24-Stunden Rennen beendete er auf Rang 1 in seiner Altersklasse.

Ich hoffe, dass der Verpflegungsstand Oberramsern bald kommt. Ich spüre, dass Ernährung mir jetzt guttun würde. Die letzten beiden Kilometer nach Oberramsern kommen mir vor wie eine Ewigkeit.

Dann erscheint am Horizont endlich der Verpflegungsposten. Wir machen eine kurze Pause. Schliesslich wird bald der zweite Anstieg folgen und eine Stärkung kann ich brauchen. Sandra trifft noch alte Bekannte und plaudert mit ihnen. Ich mache mich unterdessen auf den Weg Richtung Mülchi.

Ich bin sämtliche Anstiege 1 Woche vorher abgelaufen. Dadurch weiss ich, was mich erwartet. Das kommt mir sehr entgegen. Ich kann diese beiden Steigungen gut bewältigen. Sandra hat mich bei der zweiten Steigung eingeholt. Nun folgt ein sanfter, langer Abstieg Richtung Jegenstorf. Doch irgendwie wollen meine Beine nicht. Ich kann nicht wie gewünscht performen. Mittlerweile sind 45 Kilometer erreicht. Sandra versucht mich abzulenken und erzählt von neuen Netflix-Serien. Aber ich versinke gerade in einem Tief. Erstmals machen sich negative Gedanken breit. „Warum mache ich das ganze?“ „Es hat doch überhaupt keinen Sinn.“ „So erreiche ich Biel nie.“ Dank Sandra gelingt es mir, mich nach Jegenstorf durchzubeissen, wo ein Verpflegungsstand wartet. Ich sitze hin. Und ich beginne zu weinen. Vor Enttäuschung, vor Wut. Es will einfach nicht sein. Sandra lässt mich kurz ein wenig alleine. Sie spürt, dass ich gerade wohl mit mir klar kommen muss. Andreas taucht am Verpflegungsposten auf. Ich erzähle ihm vom Tief. Er muss nicht viel sagen, aber er hilft mir ungemein. Zum Glück läuft es ihm zurzeit besser. Er konsumiert kurz und weiter geht es für ihn. Ich versuche mich zu sammeln. Ich habe ungefähr 15 Minuten pausiert. Nun ist es Zeit weiterzugehen.

Kilometer 48 – 67 / Weiter, einfach immer weiter

Die nächsten 4 Kilometer vergehen wieder besser.

Ich fühle mich gut und habe das Gefühl, dass diese Krise auch ihr positives hatte. Die Worte von Andreas hallen in mir nach. Bis nach Kirchberg kann ich gefühlt ein regelmässiges Tempo angehen. Kirchberg habe ich vorgängig für meinen Kopf als schwierige Hürde ausgemacht. Hier endet für viele der Nacht-Ultramarathon, das bedeutet, diese Leute haben ihr Ziel jetzt erreicht. Hier muss ich mich für die nächsten 11 Kilometer auch von Sandra trennen und ich bin auf mich alleine gestellt. Wir verpflegen uns nochmals und wir verabschieden uns. Einerseits ist es motivierend, zu wissen, dass wir schon bald wieder zusammentreffen, andererseits läuft man nun doch ziemlich alleine.

Die Nacht weicht langsam dem Morgen. Das Vogelgezwitscher habe ich noch selten so intensiv wahrgenommen wie der Emme entlang. Die letzten 3 Kilometer bis zum Zusammentreffen mit Sandra werden erneut zur Qual. Ich leide. Als ich das Grüppchen der Velobegleiter sehe, bin ich überglücklich. Ein Ausstieg bei Bibern wird für mich langsam zum realistischen Szenario. 100 Kilometer zu laufen ist der nackte Wahnsinn. „Warum soll man das machen? Ist doch nicht normal.“

Kilometer 67 – 82 / Wenn es nicht mehr geht, geht es doch

Die nächsten Kilometer sind für den inneren Schweinehund wahnsinnig schwierig. Es geht sanft, kaum spürbar, leicht bergauf.

Die Kilometer-Zeiten sind hundsmiserabel. Sie bewegen sich im 08:er Bereich. Der Kopf, die Müdigkeit und die angeschlagene Moral tut ihr übriges dazu. Sandra muss mich motivieren, dass ich durchbeisse. Wie gerne würde ich mit ihr tauschen und mich aufs Fahrrad setzen. Sie erzählt mir Geschichten, welche sie unterwegs erlebt hat und von Menschen, die sie getroffen hat. Besonders in Erinnerung geblieben ist ihr ein Velobegleiter aus Berlin. Nicht nur für uns Läufer, sondern auch für die Velobegleiter ist dieser Event ein Abenteuer. Irgendwie bewundere ich Sandra, mit welchem Optimismus, mit welcher Energie und mit welcher positiven Einstellung sie das alles erträgt. Innerlich bin ich zufrieden, mit ihr die richtige Auswahl für die Velobegleitung getroffen zu haben.

Mittlerweile sind wir in Bibern angekommen. Der letzte mögliche Ausstiegspunkt. Aber irgendwie ist das bei diesem Kilometer kein Thema mehr. Vor uns steht der letzte Anstieg. Gehen? Nein, der will gelaufen sein. Ich weiss nicht mehr, ob ich vorher schon paar Meter im Schritttempo gelaufen bin. Aber auch dieser Hügel will bezwungen sein. Sandra motiviert mich. Oben angekommen ist es ein erhabenes Gefühl. Ich spüre einen wahnsinnigen Stolz in mir. Und vor allem: Sandra ist sowas von stolz. Das gibt einem einen nochmaligen Schub. Sofort wird von ihr eine Sprachnachricht an die WhatsApp-Gruppe versendet. Was für ein Gefühl.

Die nächsten Kilometer gehen bergab. Doch ich kann diese nicht so schnell bewältigen wie gewünscht. Ich habe das Gefühl, als wäre es hier beinahe zu steil, um schnell zu laufen. Nur noch 18 Kilometer. 18 flache Kilometer. Was ist das schon?

Ich weihe Sandra in einen lange in mir gehegten Wunsch ein und frage ob sie mit Karin Kontakt aufnehmen kann, um abzuklären, ob mein Vater im Ziel auf uns wartet.

Michael Rothen
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Kilometer 82 – 99.9 / Vom Flow zur Qual

Unten angekommen, erwartet uns der Verpflegungsposten Arch. Wir nehmen einen Espresso-Shot zu uns. Dieses Gesöff ist das wohl scheusslichste Getränk aller Zeiten. Eine Mischung zwischen Kindermedizin und RedBull-Geschmack. Sandra erzählt mir, dass Yannick in Büren an der Aare auf uns wartet. Bis dahin ist es ja nicht mehr weit. Nur noch 6 Kilometer. Wir treffen auch noch auf Hansruedi, der über Schmerzen klagt. Ich hoffe für ihn, dass auch er noch weiterlaufen kann.

Jedes Mal nach dem Verpflegungsposten ist es eine Qual, wieder in den Laufrythmus zu kommen. Doch irgendwie gelingt es mir immer, diesen inneren Schweinehund zu überwinden.

Sandra trifft auf der Strecke die Velobegleitung aus Berlin und beginnt zu quatschen. Dessen Läufer ist im Moment ziemlich schnell unterwegs. Voller Stolz erzählt Sandra von der letzten Steigung. Ich weiss nicht, ob es reine Psychologie von ihr ist oder ob es effektiv so gemeint war. Auf alle Fälle tut es gut.

2 Kilometer sind mittlerweile seit dem Verpflegungsposten Arch vorüber. Und ich fühle mich, als würde ich zu fliegen beginnen. Wir überholen jetzt die spassige Berliner Lauftruppe. Diese hängt sich an uns dran. Sandra quatscht mit denen. Ich will nur laufen. Der Berliner Lauffreund muss mich nach etwa 2 Kilometer ziehen lassen. Er kann das Tempo nicht mehr halten. Ich komme in einen Flow. Ist es das Runners High? Oder macht sich der scheussliche Espresso-Shot bemerkbar? Ich überhole Läufer um Läufer. Es fühlt sich an, als würde ich dem Ziel entgegen sprinten. Ich erreiche Büren und sehe Yannick am Strassenrand stehen. Aber ich will nicht stoppen. Ich laufe weiter mit meiner Pace. Sandra stoppt bei Yannick und plaudert mit ihm. Noch 10 Kilometer bis zum Ziel. Was sind schon 10 Kilometer?

 

Und plötzlich ist die gesamte Energie weg. Es ist, als würde ich in eine Mauer laufen. Fast nichts geht mehr. Und vor allem: das Scheiss-Knie. Es schmerzt. Ich versuche den Laufstil anzupassen und so das Knie zu entlasten. Ist es die Müdigkeit, dass ich zu fest aufs Knie höre? Oder schmerzt es jetzt wirklich? So kurz vor dem Ziel. Das darf nicht wahr sein. Ich muss Tempo rausnehmen. Die Schuhe schmerzen, die Beine schmerzen. Jeder Schritt, jeder Kieselstein unter den Füssen tut weh. Eigentlich will ich nicht mehr. Yannick wartet wieder auf uns. Er hat Verstärkung von Michu erhalten. Ich weiss, dass ich jetzt nicht mehr stoppen darf. Ich hoffe, sie nehmen es mir nicht übel. Es ist nicht persönlich gemeint.

Die Kilometer-Zeiten sind wieder bei 08:xx angekommen. Eine Zielzeit von unter 13 Stunden ist unrealistisch. Aber das stört mich in diesem Moment absolut nicht. Sandra findet wieder die richtigen Worte und kann mich so weiter Richtung Ziel „hetzen“. Die Berliner Lauftruppe überholt uns. Die Kilometer kommen mir ewig lange vor. Ich habe das Gefühl, die letzten 10 Kilometer dauerten etwa gleich lange wie das gesamte Rennen vorher. Es will und will nicht enden. Mein ganzer Körper schreit mittlerweile vor Schmerzen.

Ich habe bereits vorher viele Stunden gelitten, ich habe psychische und körperliche Tiefen erlebt. Es gab viele Momente wo ich am liebsten den Lauf aufgegeben habe. Aber jetzt? So kurz vor dem Ziel? Nein! Ich weiss nicht mehr, WIE ich es geschafft habe, die letzten Kilometer zu laufen. Aber irgendwas hielt mich am Laufen. Schritt für Schritt näherte ich mich dem Ziel. Schritt für Schritt für Schritt.

Die ersten Hochhäuser von Biel sind mittlerweile ersichtlich. Jetzt ist klar, wir werden das Ziel erreichen. Ob laufend, kriechend, rennend. Es ist sowas von egal. Sandra erzählt mir wieder von den WhatsApp Nachrichten. Langsam überkommt mich einfach das Gefühl von Stolz. Und jetzt, 3 Kilometer vor dem Ziel, ist es an der Zeit, Sandra noch einen Song abzuspielen. Dieses Lied habe ich während dem Training oft gehört und mir den Zieleinlauf vorgestellt:

Dieser Kilometer ist ein Feuerwerk an Emotionen. Mit Hühnerhaut und Tränen in den Augen kommen wir zum Schild, das uns voraussagt, dass es nur noch 2 Kilometer sind.

Die Tränen sind kaum mehr zu bremsen. Was für Emotionen. Nur noch diese Kurve, dann muss doch das Ziel da sein. Wir hören doch schon die Musik… Nein, da ist nichts. Weiter geht es. Stolz, Enttäuschung, Müdigkeit, Freude… Alles ist dabei.

Da ist endlich das Kongresshaus zu sehen. Es ist gleich geschafft. Die letzten 100 Meter. Und was jetzt kommt, ist für mich persönlich an Emotionen kaum mehr zu übertreffen. Ich entdecke meinen Vater am Strassenrand. Ich kann ihn zu uns auf die Rennstrecke holen. Zu dritt laufen wir Hand in Hand die zweitletzte Kurve. Und da steht auch schon meine Frau mit den Kids. Und auch Yannick und Michu sind zu hören und zu sehen.

Jetzt ist es endgültig um mich geschehen. So viele Emotionen prasseln auf mich ein. Es ist kaum in Worte zu fassen, mit welchen Emotionen ich die Ziellinie überquere. Es ist vollbracht. In 13 Stunden, 05 Minuten und 49 Sekunden. Und dazu der Zieleinlauf mit meinem Vater – und natürlich mit Sandra. Es ist ein unbeschreibliches Gefühl! Freude pur! Der ganze Schmerz weicht dem Adrenalin! Ich bin fast zweieinhalb Marathons gelaufen – die ganze Nacht durch. Ich habe Biel bezwungen. Ich habe meinen inneren Schweinehund bezwungen. Der Stolz ist einfach unbeschreiblich. Ich bekomme die Medaille umgehängt und schon kommt meine Familie angerannt. Ich würde am liebsten jetzt die Pause-Taste drücken und diesen Moment für ewig geniessen.

Fazit

Mittlerweile habe ich mich bereits mehrere Nächte erholen können. Aber nur schon beim Schreiben dieser Zeilen musste ich einige Male Luft holen und die Tränen abtrocknen. Immer wieder kommen mir kleine Geschichten in den Sinn, die ich in dieser Nacht (und am Vormittag) erleben durfte. Mit bekannten oder unbekannten Gesichtern.

Mein Gefühl von Dankbarkeit ist enorm gross und würde den Rahmen sprengen. So viele Leute haben dieses Erlebnis für mich zu einem grossartigen und unvergesslichen Laufevent gemacht. Mitten in der Nacht oder so früh am Morgen erhielten wir dauernd Nachrichten. Es standen Leute am Strassenrand und haben mir zugejubelt. Dazu all die Leute am Ziel. Einfach nur toll.

Ich habe bereits während dem Lauf gesagt, dass ich eine solche Distanz nie mehr laufen werde. Dabei wird es auch bleiben. Ich bin sicher, mit einer längeren Vorbereitungszeit wäre eine bessere Zeit möglich. Zumal ich auch jetzt gewisse Erfahrungswerte vorweisen kann und mir einige Anfängerfehler nicht mehr passieren würden. Nichts desto trotz: Ich bleibe dabei. Dieser Lauf war einmalig. Es war so schön. Eine zweite Ausgabe könnte damit nicht mehr mithalten. Und so bleibt mir dieser Lauf so in Erinnerung wie es sich für so einen Lauf auch gehört: absolut einmalig!

Hansruedi Nyffenegger
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Die Vorbereitung

Wann hat das Ganze angefangen? Vor rund 45 Jahren, als ich auf den Schultern von meinem Vater die Läufer vorbeiflitzen sah? Als ein Kollege am Hunderter scheiterte aber dann mehrfach finishte? Bei meinem ersten Halbmarathon, den ich in Biel lief? Mit dem ersten Gedanken? Mit der Anmeldung?

Irgendwann muss man als Läufer bekanntlich nach Biel. Das Zitat von Werner Sonntag ist längst zum Sprichwort geworden. Und als ich meine ersten beiden Marathons beendet hatte, begann die Lust auf diese ultimative Prüfung zu keimen.

Nur zu gerne wäre ich 2018 bei der 60. Austragung, bei der Jubiläumsausgabe gelaufen. Allerdings hatte ich in diesem Jahr bei einem Marathon einen üblen Einbruch erlebt. Nach 32 km erste Gehpausen. Nicht dass das einen Start in Biel unmöglich macht. Aber es dämpfte meine Euphorie beträchtlich. Noch hatte ich die 42 km nicht im Griff.

Warum habe ich mich dann für die 61. Ausgabe angemeldet? Es ist ja nicht so, dass mich die Marathonstrecke nicht mehr herausfordert. Ich habe mir am Schluss folgende Erklärungen für andere Sportler zurechtgelegt:

  • Ich will die Marathonstrecke besser in den Griff bekommen. Schaffe ich 100 km, dann sollten die 42 km auch lockerer machbar sein.
  • Ich will wissen, ob ich es kann.

Für die Nichtsportler war die Erklärung einfacher:

  • Weil es ein legendärer Lauf ist und eine tolle, neue Herausforderung.
  • Weil ich es will und kann.

Für mich im Stillen:

  • Weil für mich im 2019 viele Voraussetzungen in Arbeit und Familie erfüllt sind, um das Abenteuer in genau diesem Jahr zu wagen.
  • Weil ich vor den 100er-Läufern einen Wahnsinns-Respekt habe. Und mir den auch erkämpfen möchte von Leuten, die ich selber hoch respektiere.

Marathon laufen ein paar Tausend Leute in der Schweiz. An die 100km trauen sich nur wenige, nur 669 beendeten heuer noch den Lauf, viele davon sind ausländische Gäste. Ich verstehe den 100er von Biel als so etwas wie den Ritterschlag für Langstreckenläufer. Und es scheint mir zunehmend die letzte Chance zu sein, den Lauf noch einmal auf der originalen Runde zu absolvieren. Wer weiss, wie lange er noch in dieser Form besteht, bei dauernd sinkenden Teilnehmerzahlen. Besonders die Jüngeren fehlen.

Vielleicht scheinen alle diese Gründe nicht stichhaltig. Mir auch nicht. Letztlich kann ich nur ansatzweise erklären, wieso ich mir diese Tortur selber aufgehalst habe. Man könnte ja gemütlich Halbmarathons laufen… Oder Kegeln.

Für die Vorbereitung habe ich in erster Linie den Trainingsplan von Running Coach befolgt, fünf Einheiten die Woche und als Zielwettkampf einen Marathon eingegeben. Diesen habe ich zuerst im März gesetzt, dann im Mai und schliesslich am Tag vom Hunderter. So bin ich ab Dezember jede Woche 2 bis 3 stündigige Longjogs gelaufen. RC hat als höchste Distanz den Marathon und damit sind die langen Läufe – bei meiner Laufgeschwindigkeit auf rund 32 km in drei Stunden beschränkt. Später habe ich die Geschwindigkeit bei den Grundeinstellungen deutlich gesenkt, so dass RC eine realistische Prognose für 100 km ergab. Dadurch wurden meine Longjogs und Dauerläufe zwar ziemlich langsam und kürzer, ich dehnte sie dafür zeitlich hin und wieder etwas aus.

Als einzige Veränderung zu diesem Plan habe ich jeden Monat etwas Zusätzliches gemacht: im Januar einen Streak-Run mit täglichen Laufeinheiten, im Februar etliche Tage auf den Skis, zusätzlich zum Lauftraining. Im März intensiveres Tempotraining, im April eine Woche mit total 100 km. Im Mai schliesslich lief ich meinen ersten Ultra-Marathon von 50 km. 

Die letzten Tage vor dem Lauf verliefen nicht sonderlich gut. Mich plagten verschiedene muskuläre Beschwerden. Ein Massagetermin bei meinem Physio brachte gewisse Erleichterung, aber dafür schmerzten dann andere Ecken. Die letzten Tage versuchte ich so weit wie möglich den Körper auf den Nachtlauf umzustellen. Joggen abends um zehn. Später ins Bett als üblich, möglichst lange ausschlafen.

Am Tag vor dem Lauf gönnte ich mir ein langes Ausschlafen, nachmittags noch ein Nickerchen. Ich erwachte mit höllischen Kopfschmerzen. Aber auch mit leicht angespannter Vorfreude.

Aus verschiedenen Gründen war ich eher spät am Start in Biel. Aber zum Glück klappte es mit der Startnummer-Ausgabe wie am Schnürchen, die Garderobe ist in angenehmer Distanz zum Start/Ziel. Das ist in diesem Jahr noch 100m besser geworden, das ganze Gelände wirkt angenehm kompakt und familiär. So habe ich noch kurz Zeit ein paar Bekannte zu treffen – Freunde, Familie, andere Läufer.

Hansruedi Nyffenegger
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Der Lauf

Kurz vor 22.00 Uhr stehen die Läufer bereit. Einlaufen tun eher wenige, nur die ganz Ambitionierten. Das kann man auf den ersten Kilometern machen. Ein wenig Gymnastik um nicht mit kalten Muskeln zu starten. Dann dröhnen die Toten Hosen durch die Lautsprecher. Das Lied passt für uns Laufende perfekt. 

Ich wart seit Wochen, auf diesen Tag
und tanz vor Freude, über den Asphalt
Als wär's ein Rythmus, als gäb's ein Lied

Das mich immer weiter, durch die Straßen zieht…

An Tagen wie diesen
Wünscht man sich Unendlichkeit
An Tagen wie diesen
Haben wir noch ewig Zeit
In dieser Nacht der Nächte
Die uns so viel verspricht
Erleben wir das Beste
Kein Ende ist in Sicht

Punkt Zehn knallt der Startschuss. Links und rechts alles Gute wünschen, dann geht es auf die Reise. Die ersten paar hundert Meter sind emotional. Biel kennt seinen Hunderter, man spürt als Läufer viel Respekt und kann den Jubel geniessen. Mich schüttelt es. Für diesen Moment habe ich trainiert. Ich darf hier dabei sein. Darf! Privileg! Ich bin jetzt ein Läufer! Ich habe den Mut mit dieser Prüfung zu stellen! Das trauen sich nur wenige! Die Sätze habe ich tief in mir abgespeichert. Ich sollte sie im Lauf der Nacht brauchen.

Die ersten Kilometer laufe ich mit Andreas. Man kennt sich heute dank Strava. Zeit sich im wirklichen Leben kennen zu lernen. Bei rund 6:15 min/km schwatzen wir uns durch die Runde durch Biel. Etwa nach 5 km laufen wir auf Michael auf und schwatzen weiter. Die beiden haben die Ruhe weg. Verrückt: da laufen wir ein echtes Rennen und schwatzen munter vor uns hin. Vor drei Jahren habe ich an meiner Halbmarathon-Premiere noch übel gekeucht – bei genau dem gleichen Tempo!

Am Jäissberg laufen einige weiter. Andere beginnen zu gehen. Lustig: am 100km-Lauf schon nach 6 km wandern. Ultra-Läufe haben andere Regeln. Bei Stadtmarathons beginnt das Wandern so etwa ab Kilometer 27…

Das Wetter ist mässig. Eher kühl ist zwar für uns Läufer positiv. Gelegentliche kurze Regenschleier gehen nieder, vor allem aber hat es viel Wind. Der nervt mich und kühlt aus. Den Zuschauern macht es wenig aus. In allen Dörfern entlang der Route herrscht Feststimmung. Bis weit in die Nacht hinein wird geklatscht, gejubelt, Bratwurst und Bier. Notfalls dick in Regenschutz und Decke verpackt, im Liegestuhl die Sportler beklatschen. Nach einem Anstieg von rund 80 m geht es runter nach Jens und ein weiterer Verpflegungsposten folgt. Diese sind im Durchschnitt nur rund 6 km auseinander, top betreut und organisiert. An dieser Stelle vielen Dank allen Helfenden, welche sich diese Nacht um die Ohren schlagen. Man nimmt sich Zeit für die Verpflegung und einen kurzen Schwatz. Nichts da mit trinken im Vorbeirennen und Becher rumwerfen (wobei diese Unsitte schon auch zu sehen ist), jedenfalls nicht in meiner Stärkeklasse. Ultraläufe haben eigene Regeln, die Sekunden zählen nicht.

Die Strecke nach Aarberg geht geradeaus über die Felder. Toll, der Blick zurück: hunderte von Stirnlampen in einer langen Reihe. Ich darf dabei sein. Dann holt man die langsamsten Wanderer vom vorher gestarteten 13,5 km Lauf ein und wird bald von den besten Halbmarathonis eingeholt. Erstes Highlight ist Aarberg mit der Brücke und dem sehenswerten Altstädtchen dahinter. Für die 100-km-Läufer rund km 17, für die Halbmarathonis dank Zusatzschleife in Biel das Ziel. Für uns geht es hinaus in die Nacht. Von hier weg ist das Rennen für mich neu, nicht aber die Gegend.

Andreas macht bei Bekannten eine Pause für Kaffee und Kuchen, man sieht sich. Ich laufe alleine weiter und geniesse die Nacht. Unterwegs steht ein einsamer Diskjockey und dröhnt die Nacht mit tollen alten Hits zu. Heute liebe ich das.

Mit 6 Minuten Verspätung auf meine Marschtabelle erreiche ich gegen halb eins Lyss, das ist aber komplett OK, 2 Minuten waren dem Start geschuldet, 3 dem Gehen am Jäissberg. Hier laufe ich 50m an meinem Elternhaus vorbei. Begrüsse Mutter, Schwester, meine Kinder und Kurt, meinen Velobegleiter. Küsschen und «Schlaft gut». Dann geht es hinaus in die Nacht. Noch 10 Stunden? Noch 12? Mir wird bewusst, wie lange der 100er ist. Interessant, dass «lang» sowohl den Weg als auch die Zeit bezeichnet.  

Die nächste Stunde führt über Grossaffoltern ins Limpachtal. Schade ist es dunkel. Ich sehe die Gegend, in der ich aufgewachsen bin, wo ich mit Velo, Töffli und zu Fuss rumgestrolcht bin. Die Strecke ist teils etwas hügelig, zwingt gelegentlich zum Gehen. Wo nicht, schwatze ich mit Kurt. Er ist selber ein ehemaliger Leistungssportler und hat als Pacemaker auch schon Teile vom 100er gelaufen oder mehrfach Spitzenläufer per Velo begleitet. Nun, dieses Mal muss er etwas mehr Geduld haben…

Nach rund 30 km erreichen wir das Limpachtal. 7 km gerade aus. Die Strassen sind nass, immer wieder gehen kurze Regenschauer auf uns nieder. Es ist ein Privileg hier rennen zu dürfen. Ich bin 4½ Stunden unterwegs.

Im Kopf lasse ich immer wieder «Sogno di Volare» von Christopher Tin laufen. «una volta avirai…»…«eines Tages werden wir fliegen». Es ist eines meiner Motivationslieder. Höre ich oft vor dem Start eines Rennens. Gibt mir Power. Und die kann ich brauchen, meine Beine sind müder, als ich gehofft hatte. Müder als nach dem 50 km Lauf. Kleine Zweifel werde von mir aber sofort aus dem Gedächtnis gestrichen. «Laufen ist zu 90% Kopfsache. Der Rest ist mental»

Es ist halb drei Uhr nachts. Da ist der Körper üblicherweise im Ruhemodus. Ich bin nicht müde. Bloss mein Körper.

Nach 40 km habe ich keine Lust mehr auf Riegel und Sportgetränke. Gut, es hat auch Salzbretzel, Bouillon, Brot und Bananen. Aber auch die würden mir im Lauf der Nacht zum Hals raushängen. Ich habe selber noch ein paar Leckereien eingepackt. Aber abgesehen von einem halben Biber nehme ich alles wieder heim. Nichts Neues für mich. Wenn ich laufe kriege ich fast nichts runter. Ausser Schokolade - aber ausgerechnet meine Seelennahrung habe ich vergessen zu kaufen! Die Marathondistanz geht durch, es ist das sechste Mal, dass ich über diese Distanz laufe. Bloss werden es gleich noch 58 km mehr. Ich trabe weiter.

Irgendwann mitten in der Nacht sehe ich im Licht der Stirnlampen und Fahrradleuchten zwei nackte Gestalten über das Feld rennen. Ich schaue ungläubig. Aber Kurt hat es auch gesehen. Kein Wachtraum, keine Halluzination eines müden Hirns sondern wohl zwei Verlierer irgend einer bierseligen Wette. Auch mitten in der Nacht wird in den Dörfern gefeiert und angefeuert.

Später treffe ich mehrfach wieder auf Andreas und Michael. Es läuft den beiden mal mehr, mal weniger. Tröstlich zu hören, dass sie das auch nicht einfach so locker wegstecken. Oft sind es nur ein paar Worte, welche den andern wieder aufbauen. Danke Jungs, dass ich mit euch laufen durfe! Leiden tun alle. Aber auch andere Läufer haben die Krise. Einer übergibt sich. Einer streitet mit seiner Velobegleitung. Die Frage ist nicht, ob man eine Krise hat – sondern wann welche. Darauf muss man sich vorbereiten, Taktiken zurechtlegen.

Aber im Grossen, Ganzen bin ich zufrieden wie es läuft. Meine verhärteten Muskeln haben sich entspannt und mein Kopfweh hat sich gelöst. Einzig eine Sehne am rechten Fuss fühlt sich etwas taub an und schmerzt beim Drücken.

Kurz nach Jegenstorf passieren wir das 50-km Schild. Und der gelegentliche leichte Regen hat endlich aufgehört. Aber es ist kühl, ich bin froh um meine Jacke. Ich habe angefangen gelegentliche Gehpausen einzulegen. Meinen Velobegleiter schicke ich voraus. Bei meinem Schneckentempo fällt er fast vom Rad.

Das erste Hell des Tages. Im Kopf muss man sich beschäftigen. Ich spreche in Gedanken mit 10 Freunden. Erzähle ihnen vom Lauf. Schreibe in Gedanken diesen Bericht. Freue mich auf den Zieleinlauf.

Ansonsten schätze ich Kurts Begleitung, seine Erfahrung und Anwesenheit – ohne verpflichtet zu sein die ganze Zeit zu sprechen gibt er mir Sicherheit. Und hält mich wach, wenn ich mehr Kurven als nötig laufe. Gelegentlich trotte ich fast im Schlaf voran. Vermutlich kommen daher die Extra-Kilometer, welche meine Uhr aufgezeichnet hat. Oder waren es die Abstecher auf’s Toitoi? Mein Magen rebelliert gegen jede grössere Menge an Nahrung, und meine Verdauung läutet munter und zuverlässig den Tag ein.

Der ist dann spätestens in Kirchberg angebrochen, wo der Lauf für 56 km – Ultra Läufer endet. Kurz überlege ich, dass es vielleicht auch sinnvoll gewesen wäre, mal diese Distanz auszuprobieren. In Kirchberg trennen sich die Wege der Läufer und Velobegleiter, der Emmendamm (leider nur noch teilweise der legendäre «Ho-Chi-Minh-Pfad») ist zu schmal für alle. Ich schnappe mir das Bidon und laufe anderthalb Stunden ohne Velobegleiter, abgesehen von einem kurzen Treffen an einem Verpflegungsposten.

Am Emmendamm höre ich zum ersten Mal seit Jahren einen Kuckuck flöten. Wann habe ich das zum letzten Mal gehört? Wunderschöner Morgen, die Sonne geht auf.

Mein rechter Fuss beginnt mir bei Kilometer 60 Sorgen zu machen. Was zuerst nur eine schmerzende Sehne war, weitet sich aus, der ganze Muskel, bis hinauf zum Schienbein schmerzt. Positiv ist, dass die Schmerzen beim Laufen weniger schlimm sind. Dafür schmerzt mich beim Laufen das linke Knie mehr als beim Gehen. Die Wahl zwischen Pest und Cholera.

Es geht ein langes Tal nach Biberen zu km 78 hinauf. Der Morgen ist sonnig und angenehm kühl. Beim nächsten Verpflegungsposten merke ich auf dem Toi-Toi, dass mein Knöchel nicht ist, wie er sein sollte. Er ist warm, geschwollen. Zum Glück habe ich Kompressionssocken an. Nichts anmerken lassen. Was riskiere ich, wenn ich weiterlaufe?

Dass ich hier aufgeben könnte kommt mir irgendwie zu spät in den Sinn. Es geht auch ziemlich steil den Hügel hinauf. Also Cholera. Mir hämmert eines meiner Motivationslieder von Mundartsänger Kunz durch den Kopf:

Hesch dä Rägetropf i üsem Dorfbach gseh?

Irgendeinisch chunt de ou zum grosse Meer!

Lueg emou dem chliine Zweig bim Wachse zue

Us dem gits e Baum bis wit i Himmel ue

Drum säg mir nie, ich seigi z chlii, denn alles do muess mol afoh

 

Schritt für Schritt der Bärg doruuf

Tritt für Tritt loh keine us

und chunt e Stei stohni druf und schrei:

«Ich gibe sicher nid uf»,

Wobei ich irgendwie zwischen «Dorfbach» und «Schritt für Schritt» nur noch da-da-daaaa weiss. Der Text ist mir entfallen. Aber ich gebe sicher nicht auf!

Kurt hört sich die Beschreibung meiner Blessur an und meint lakonisch «muesch haut dürebiise». Stimmt. Anderes bleibt nicht übrig. Hinunter nach Arch kann ich noch mal ein paar Kilometer laufen. Pest. Hier treffe ich Michael wieder (nebst diversen andern bekannten Gesichtern, man sieht im Lauf des Rennens oft die gleichen LäuferInnen).

Bis km 90 schaffe ich es noch regelmässig zu laufen. Halbe-halbe versuche ich hier noch zu halten. Ich richte mich nicht nach der Geschwindigkeit, stelle aber fest, dass ich mich immer noch am besten bei rund 6:15/km fühle. Allerdings ist inzwischen mein Energievorrat so tief, dass ich dies nur noch ein paar hundert Meter schaffe. Langsamer geht nicht. Ich habe den Körper den ganzen Frühling lang auf dieses Tempo geeicht.

Hesch dä Rägetropf i üsem Dorfbach gseh?

da-da-da…

Schritt für Schritt der Bärg doruuf

da da- warum kenne ich jetzt den Text nicht mehr?

Ich gibe sicher nid uf

Ja, der Fuss tut weh. Toll aber auch die Solidarität der anderen Läufer und Begleiter. Ich hätte eine halbe Apotheke von den "Konkurrenten" (Wortspiel!) haben können. Aber mit Schmerzmitteln finishen will ich nicht. Viele feuern mich an. (Danke, macht mich stolz). Komm mit. Nur noch ein paar Kilometer. Das schaffst du. (Ich weiss!) Noch viel mehr als bei Marathons kommt hier der gemeinsame Sportgeist zum Tragen. Hier ist jeder Sieger. Jeder leidet. Etliche haben längst aufgegeben. Und die Zuschauer stehen und Klatschen. Man fühlt sich wie ein Held. Und wiederum gar nicht.

Wer nicht mehr laufen kann, kann joggen.

Wer nicht mehr joggen kann, kann gehen.

Das Ziel sollte aber schon vor dem Kriechen kommen.

Der Weg der Aare entlang ist eine schöne Laufstrecke. Endlich zeigt meine Uhr weniger als 10 km an, leider weiss ich, dass sie nicht genau stimmt, ich werde am Schluss 105 gemessen haben. Ob das an den Toi-Toi Abstechern liegt?

Trotzdem freut mich das ehemalige Kloster Gottstatt. So ein friedlicher Ort. Dann kommen jeden Kilometer die Tafeln. 5, 4, 3… Und immer noch stehen Leute am Wegrand, beklatschen jeden einzelnen Laufenden. In vielen Augen lese ich Bewunderung. Oder ist es Mitleid? Ich kann längstens nicht mehr rund laufen und nur noch für die Fotografen antraben – nach 100 m gewöhnt sich der Körper an die Laufbewegung. Bloss um nach 100 m wieder energielos zu gehen. Ich habe meine Reserven restlos aufgebraucht. Nun ist es nur noch Kopfsache. Ich fühle fiese Kiesel an den Fusssohlen, beginnende Blasen.

2 km… Es geht durch Quartiere, die ich in Biel nie gesehen habe. 1km. Die Tafel habe ich ersehnt. Und dann stehen beide Schwestern und meine Kinder am Strassenrand, Frau und Mutter sind am Ziel bereit. 

Gemeinsam mit meinen Girls lege ich die letzten Meter zurück. Dürfte gegen die Regeln sein, ist mir aber gerade mal egal. Sie haben mir Wollbändchen geflochten, wie vor meinem ersten Marathon. Hat mir Glück gebracht. Und vielleicht, wenn sie einen solchen Zieleinlauf erleben, kommen sie vielleicht eines Tages auf den Geschmack…? Muss ja nicht gleich 100 km sein.

100 m vor dem Ziel wird die Startnummer aufgenommen, so dass man beim Einlauf wirklich mit dem korrekten Namen begrüsst wird. Ich laufe mit den Kindern über die Ziellinie.

Wie oft habe ich diesen Moment in meinen Gedanken durchgespielt? Hunderte Male. Zwischen Urschrei, Krankenbahre und Tränen, Arme oben, V-Zeichen und Daumen hoch habe ich mir alles vorstellen können. Hinterher habe ich keine Ahnung, wie ich eingelaufen bin. Ich musste die Fotos anschauen.

Im Moment mal bin ich leer. Habe nach 13 Stunden 35 Minuten 36 Sekunden kein Ziel mehr vor mir, der nächste Schritt ist nicht mehr wichtig. Lasse mir die Medaille umhängen. Danke meinem Velobegleiter. Küsse meine Liebsten. Stehe dann verloren da, fühle mich schwindelig und muss mich mal zuerst setzen. 105,67 km meint meine Uhr. 

Hansruedi Nyffenegger
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Danach…

Wer zu fieser Schadenfreude neigt, sollte die Garderobe von Ultraläufern besuchen. Da versuchen sportliche Leute ein paar Treppenstufen zu erklimmen, eine Socke anzuziehen oder mit 2 Stundenkilometern zu einem Auto zu wanken, ohne die Blasen an den Fusssohlen zu belasten.

Ich war schon schlechter unterwegs. Einige beginnende kleine Blasen. Ein paar schmerzende Muskeln. Und eben, mein Knöchel. Heiss und geschwollen. Ich dusche und zeige ihn der Sanität. Kühlen und einbinden. Mehr geht nicht. Bewegen auch nicht mehr.

Danach gönne ich mir eine kurze Massage. Sie dauert nur ein paar Sekunden. Oder habe ich geschlafen?

Mit Finisher-Shirt und Diplom werde ich abgeholt und nach Hause chauffiert. Die 120 km dauern nur wenige Augenblicke. 

Zuhause lege ich mich auf’s Sofa. Finde aber keine Ruhe. Dauernd klingelt mein Smartphone: Glückwünsche und Rückfragen, Strava und FB bringen Daumen und Kudos. Das ist positiv. Für die Anerkennung läuft man ja. Ich bin immer noch voll Adrenalin. Habe einen heissen Kopf, keinen Appetit auf gar nichts, einen wunden Gaumen, Durchfall… Das ist die Kehrseite der Medaille.

Die Nacht vergeht wie im Fiebertraum, ich muss ein Schmerzmittel nehmen, mein Knöchel ist unerträglich. Jede Bewegungsänderung schmerzt.

Für Pfingstsonntag habe ich von meiner Familie einen Wellness-Gutschein erhalten. Der Weg ins Spa ist mühselig. Auftreten geht wegen den Blasen kaum. Die Bewegungen werden erst nach ein paar Minuten einigermassen rund. So lang will ich aber gar nicht unterwegs sein. Ich verbringe Stunden im Sprudelbad. Es regnet mir auf den Kopf. Stört mich weniger als während dem Lauf. In Gedanken lasse ich die Nacht der Nächte noch einmal passieren. Es scheint mir schon weit weg. Wie ein Traum. War ich dabei?

Mein Körper fühlt es. Mein Kopf noch nicht. Ich lasse mich massieren. Abends fühle ich mich besser, kann aber nicht schlafen. Mein Rhythmus ist durcheinander.

Am nächsten Tag ist es vor allem noch der Knöchel, welcher problematisch ist. Salben und dick und stramm einbinden. Eine kurze Runde auf dem Fahrrad lockert meine Muskeln. Wenn mein Knöchel nicht wäre, hätte ich Lust eine kurze Runde zu laufen.

Ob ich mir noch einen zweiten 100er antun will? Nein. Ich habe schon mal gesagt: einmal im Leben muss man. Zweimal, nein.

Wobei... es ist die Nacht der Nächte...  wer weiss... Vielleicht...