Regina Kreyenbühl
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Post #12 of 11

Vielen Dank für den tollen, packenden Bericht und herzlichen Glückwunsch zu dieser wahnsinns Leistung! Ich zieh meinen Hut, superstark!!!

Hansruedi Nyffenegger
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Post #331 of 399

Die Vorbereitung

 

Nachdem ich 2019 den 100er in Biel gefinisht hatte, war ich ziemlich überzeugt, dass das ein einmaliges Ereignis gewesen war. Aber schon nach wenigen Wochen, als der Knöchel verheilt, mein Zehennagel wieder nachgewachsen war, keimte der Gedanke, da vielleicht doch noch einmal zu starten. Denn die Nacht der Nächte ist einfach einzigartig.

Spätestens als ich wenige Monate später meine persönliche Schallmauer durchbrach und den Berlin- Marathon in sub 4 beendete, war ich läuferisch wieder top motiviert. Und als ich einen Startplatz in Berlin für 2020 erhielt, entschloss ich mich meinen Jahresplan 2020 genau gleich zu machen wie 2019, inklusive einem zweiten Start an legendären 100er.

Bekanntlich kam dann alles anders. 2020 fanden kaum Läufe statt. 2021 wurde der Hunderter Ende August auf einer unattraktiven 5 x 20 km Runde angeboten. Das wollte ich mir nicht antun, hätte Training im Hochsommer bedeutet und hätte meinen verschobenen Start am Berlinmarathon gestört. Um läuferisch trotzdem etwas zu erleben, startete ich im Mai 2021 beim Ultra Bielersee, es war eine der wenigen Veranstaltungen, die unter den Coronabedingungen damals möglich war. Das Ziel wären 3 Seerunden à 40 km gewesen. Nach 80 km nahm ich statt der dritten Runde um den See den Weg in mein Zimmer. Die mentale Versuchung war zu gross, das Zimmer zu nahe und das Wetter zu schlecht. Dabei war ich gut unterwegs, konnte bis Kilometer 80 immer noch regelmässig laufen und war hinterher bald erholt. Aber mir war klar: Rennen mit mehreren Runden sind nichts für mich. Und so bezog ich leichten Herzens mein erstes DNF.

Eher spontan entschieden wir uns dann 2021 zu fünft als Staffel am 100er teilzunehmen. 20 km durch die Nacht laufen war ein spannendes Erlebnis und die Lauf-Chat-Gruppe – ursprünglich via RC – Forum entstanden – bietet immer wieder lustige Chats. Nach dem Lauf am Morgen bei einem Bier zusammensitzen und die Staffel feiern war dann noch viel lustiger. Und wie sich dann viele stolze Finisher vom 100er ins Ziel kämpften, keimte da die Lust auf, «es» noch einmal zu wagen. Allerdings nur auf der Originalstrecke. Wir stiessen darauf an.

Die nächsten Monate waren durchzogen, ich kämpfte mit muskulären Problemen im rechten Bein, nicht dramatisch, aber störend. Trotzdem begann ich im November 2021 wieder mit dem Aufbau auf Biel. Ab Januar war Streakrunning angesagt, ich lief während 6 Wochen täglich, entweder der normale Trainingsplan oder mindestens 20 Minuten zusätzlich. Insgesamt ermüdete mich das klar weniger als 3 Jahre zuvor.

In den Skiferien, meldeten sich meine Muskel-Probleme wieder zurück. Vielleicht war Skifahren UND «normales» Marathontraining etwas gar viel? Ich musste zurückstecken, die langen Läufe  kürzen, mich bewusster auf einen sauberen Laufstil konzentrieren.

Den Kerzerslauf im März konnte ich schmerzfrei und problemlos laufen, trotz diagnostizierter, aber kaum gefühlter Corona-Infektion einige Wochen zuvor. Kurz entschlossen entschied ich mich dann auch noch den Freiburg Marathon Anfangs April anzugehen. Ohne grosses Tapering – und ohne allzu stark zu leiden, erreichte ich immerhin meine drittbeste Marathonzeit und hatte – abgesehen von ein paar Minuten nach rund 17 km keinerlei Probleme mit den Beinen.

Dafür zwang mich dann 10 Tage später ein Stich im Knie zu 2 Wochen Laufpause – ich konnte tagelang das Bein nicht biegen. Zur Abwechslung war mal das linke Knie betroffen. Der Wiedereinstieg war hart und mental belastend, denn ich stand nur noch 2 Wochen vor dem 50er – Testlauf und fühlte mich, wie ein Laufanfänger. Allerdings lief es dann schnell wieder besser.

Und so blieb das Auf— und Ab die Konstante in der Vorbereitung. Vor dem 50 km Lauf um den Bielersee fühlte ich mich super, so dass ich meine persönliche Bestzeit ins Auge fasste. Der Plan brach dann bei rund 30 km komplett zusammen. Vielleicht war ich eine Spur zu schnell gestartet, war es zu heiss oder fehlten mir die langen Läufe? Ich musste mehr gehen als ich geplant hatte und brauchte eine Stunde länger als erhofft.

Mental war das nicht ganz einfach. Ich stellte aber fest, dass auch viele andere an dem Tag gelitten hatten, Läufer, welche mich normalerweise locker abhängen. Und vielleicht war es ganz gut, dass ich noch einmal so einen harten und mühsamen Lauf mit langer Wanderphase gemacht hatte. Dann das blühte mir am 100er eh.

Das Auf- und Ab hielt an. Während ich die Intensität und Häufigkeit vom Training gut vertrug, bereitete mir alles jenseits von 25 km schnell Mühe und meine Beine fühlten sich jeweils gar nicht mehr gut an.

Gegen negative Gedanken musste ich mich abgrenzen. Da halfen Gespräche und Chats mit Laufkollegen (danke euch, Jungs!). Diese waren viel positiver gestimmt als ich. Und nicht zu vergessen Martin, mein Velocoach. Er wirkte immer absolut positiv gestimmt und zweifelte scheinbar keine Sekunde lang an mir. Seine Vorfreude übertrug sich nach und nach doch noch auf mich.

Und während ich die letzten Einheiten vor Biel abspulte, bewahrheitete sich ein wahrer Spruch: «Tapering? Das ist doch die Zeit wo’s hier und dort zwickt und spannt, wo man dauernd müde ist, wo Zweifel aufkommen und wo man plötzlich unnötig viel Zeit hat, den Kühlschrank zu plündern.» - Merci Ändu für diese Weisheit. Jedenfalls zwickte es überall, immer wieder.

Selbstzweifel hingegen wischte ich energisch weg. «Ich habe Erfahrung, 1x schon gefinisht, 1 x 80 km, 2 x 50 km, etliche Marathons… Es wird einfach gut werden.». Und wenn nicht, wenn ich so einbrechen würde wie in Biel, dann würde ich halt nach 57 km aufhören. Als Limite würde ich mir 8 Stunden vornehmen. 6 Uhr in Kirchberg. Dank meinem ersten DNF nach 80 km würde ich das nicht als persönliche Niederlage werten, sondern als kluge Entscheidung. Und auch 57 km muss man zuerst mal schaffen.

Ich genoss die letzten Tage vor dem Lauf. Die ganze vertraute Routine vor wichtigen Rennen. Strecke wieder und wieder studieren, Taktik festlegen, von Pace über Material bis zu Verpflegung und Stirnlampe. Sich mental mit verschiedenen Szenarien befassen, Bilder, Musik, Worte, Strategien innerlich abspeichern. Mit Martin, meinem Velocoach absprechen. Letzte Massage bei Christian. Haare schneiden (ganz wichtig!). Wetterprognose für Biel, 10.6., täglich prüfen. Immer wieder positive Bilder vom Lauf abspeichern. Die Tatsache, dass ich den Lauf schon mal gemacht hatte und die kurze 20er Runde ebenfalls kannte, erleichterte gerade letzteres massiv.  
Daneben noch den Trainingsplan zu Ende bringen, allerdings sehr locker und nur noch ganz kurze Einheiten. Schön, wenn man nach 20 lockeren Minuten sagen kann, dass man einen knallharten Plan einhält…

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Hansruedi Nyffenegger
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Post #330 of 399

Der Lauf

Wir waren rechtzeitig dran in Biel, Martin und ich. Ich hatte noch einen Moment mit der Idee geliebäugelt, im Auto zu versuchen eine Stunde zu schlafen, das liess ich dann aber sein. Eine weitere Portion Pasta und Apfelschorle, schwatzen mit ein paar Bekannten – es ist erstaunlich, wie wenige Leute an derartigen Läufen teilnehmen, schon nach ein paar Jahren kennt man gefühlt einen Viertel der Startenden.

Dann war schon Zeit sich umzuziehen, und bald darauf fuhren die Velobegleiter im Polizei-Korso nach Lyss. Die Warterei begann. Die üblichen Schlangen vor dem WC. Dann hinunter vor die Tissot-Arena. Einreihen. Weitere Bekannte.

Ich persönlich mag die Tissot-Arena als Startgelände nicht. Sie ist abgelegen, der Platz zwar gegen Regen geschützt, die Festwirtschaft aber kühl und zugig. Die Tatsache, dass der günstige Parkplatz im Freien gesperrt wurde (hier hätte man das Dachzelt aufklappen und pennen können), lässt etwas vermuten, dass man mit den unglaublich teuren Innenparkplätzen Quersubvention betreibt. 21 Stunden Parken schlugen mit 76.- zu Buche. Für den Preis hätte man das Auto wenigstens noch waschen können… Auch sonst ist die Stimmung nicht mit dem Kongresshaus zu vergleichen.

Gegen zehn stieg die Spannung. Die langjährigen Moderatoren begrüssten viel LäuferInnen mit Namen. Auch hier, man kennt sich. Dann die Traditionen: die Nationalhymne – schliesslich ist der Lauf auch gleich die Schweizermeisterschaft, dann der Startschuss, mit dem Hinweis: «Wir warten hier auf euch. Habt eine gute Nacht!», und dazu aus den Boxen «An Tagen wie diesen» von den Toten Hosen.

Ich wart' seit Wochen, auf diesen Tag
Und tanz' vor Freude, über den Asphalt
Als wär's ein Rhythmus, Als gäb's ein Lied
Dass mich immer weiter durch die Straßen zieht

In dieser Nacht der Nächte
Die uns so viel verspricht
Erleben wir das Beste

Kein Ende ist in Sicht.

Das Lied ist nicht für Biel entstanden. Es hat aber viele Zeilen und Bilder drin, die perfekt zum Hunderter passen. Egal, wann ich heute den Song höre: ich stehe mental sofort in Biel an der Startlinie.

Vorne knallt der Startschuss, die Footballer der Bienna Jets geben die Startline frei, ein Feuerwerk und Konfettiregen begleiten die 634 Startenden, davon knapp 1/6 Frauen. Rund 500 werden das Ziel erreichen.

Später werden noch Staffeln auf den Weg gehen, dann ein Halbmarathon und ein Erlebnislauf, die allerdings eine andere Route laufen. Leider zeigt sich das gleiche Bild wie an anderen Läufen: die Teilnehmerzahlen sind tiefer als vor Corona. Für einen Lauf wie dem Bieler, der in seinen besten Tagen mehrere Tausend Teilnehmende begrüssen durfte, ist dies besonders bitter, aber die Zahlen sind schon lange rückläufig.   

Die neue Route führt von der Tissot-Arena mitten durch die Stadt Biel, vorbei am futuristischen Swatch-Gebäude, dann über Zentral- und Guisanplatz vorbei am Kongresshaus, bevor es dann durch Nebenquartiere aus der Stadt hinaus geht. Sie gefällt mir einigermassen.

Bei Port beginnt der Aufstieg nach Bellmund. Unterwegs überall viele Zuschauer, der Applaus tut unglaublich gut. Bis hier wird unter den Laufenden viel geschwatzt, man ist in der Regel auch noch in Gruppen unterwegs. Beim Aufstieg zeigen sich die verschiedenen Taktiken. Einige gehen bewusst die Steigung, andere rennen durch, dritte gehen dafür den steilen Abstieg nach Jens.

Mir läuft es wunderbar, ich trabe im Longjog – Tempo voran. Die Temperaturen sind zwar eine Spur höher als ich angenommen habe, gerade in der Stadt ist mein leichter Pullover über dem T-Shirt eher zu warm. Das gibt sich dann, als wir nach Jens ins die Ebene Richtung Kappelen einbiegen. Und hier höre ich eine Nachtigall singen. Nehme ich an, ich hab’s nicht so mit Vögeln (Rechtschreibung beachtet…), aber wenn nachts um halb zwölf ein Vogel ein unglaublich melodiöses Konzert veranstaltet, so würde ich auf Nachtigall tippen. Wunderschön, ich könnte stehenbleiben und zuhören. 

Nach einer Weile biegt man links ab und hier muss man unbedingt zurückblicken. Eine kilometerlange Reihe von Stirnlampen-Glühwürmchen rennt durch die Nacht. Fantastischer Anblick, mehrere «Wows» sind zu hören. Auf den Anblick habe ich mich gefreut, das habe ich mir auch als positives Bild abgespeichert. Es ist ein Privileg, hier mitzulaufen. Immer lächeln. Hab Spass!

Bald darauf biegt man von der ursprünglichen Strecke ab. In diesem Jahr muss Aarberg umlaufen werden, was sehr schade ist, denn die Holzbrücke und die hunderten von Zuschauern im mittelalterlichen Städtchen waren immer das stimmungsmässige Highlight. Hoffentlich ist es ein einmaliger Ausrutscher.

Wir traben stattdessen über holperige Waldwege Richtung Lyss. Glücklicherweise habe ich eine gute Stirnlampe, trotzdem trete ich in einige Schlaglöcher. Mistige Strecke. Unterdessen beginnt im Kopf die mentale Maschine zu rattern – plötzlich merke ich, dass ich im Kopf den Song Adiemus abspiele. Das heisst, es geht mir gut.

In Lyss geht es in einem Zick-Zack durch die Wohnquartiere bevor man den Marktplatz erreicht. Ab hier darf die Velobegleitung mitfahren, Martin ist schon im Sattel, als ich komme. Kurzer Austausch, im Longjog-Tempo, schliesslich darf mein Begleiter auch etwas von der Gegend erfahren, in der ich aufgewachsen bin. Doch schon geht es die Leuere hoch, aber die läuft sich locker, bloss, dass ich nicht mehr dazu schwatzen kann. Von hier weg bis nach Grossaffoltern ist es ein ständiges Auf- und Ab. Mag ich gar nicht. Während es im Flachen gut läuft, merke ich die Steigungen und Gefälle schon stark; mein Bein droht bei Steigungen zu blockieren, bergab hingegen brauche ich viel Muskelkraft um langsam und kontrolliert ohne Schmerzen zu laufen. Aber zum Glück verläuft der Weg hinter Grossaffoltern dann eine Stunde lang flach und gefühlt ewig lang geradeaus durch das Limpachtal.

Ich trotte vor mich hin. Martin hat eine starke Lampe am Velo, ich konzentriere mich einfach auf den Bereich vor mir, er warnt mich, wenn ein Hindernis oder Läufer vor mir sind. So laufe ich mit angenehm leerem Kopf, muss nicht aufpassen und nichts denken. Irgendwann merke ich, dass ich im Kopf dem Song gewechselt habe und bei Patent Ochsner gelandet bin. Aber es war kein bewusstes Suchen nach «meinen» Melodien – ich lasse es passieren. Auch schaue ich nur wenig auf die Uhr, lasse mich das Limpachtal hinuntertreiben.

Im Vergleich zu 2019 ist hier weniger los an der Strecke, aber immer noch stehen oder sitzen Leute – es ist inzwischen halb drei nachts – am Strassenrand und beklatschen jeden Läufer. Das ist unglaublich, bei einigen Marathons ist da am Sonntagnachmittag mitten in der Stadt weniger los. An dieser Stelle ein riesiger Dank an alle Zuschauer, welche jeden von uns feiern, als wären wir unglaubliche Helden. Aber auch an die hunderten von Zivilschützern, welche für jeden die Strassen blockieren, die es zu überqueren gilt. Ein herzliches Merci auch an die vielen gutgelaunten Helfer an den 17 Verpflegungsständen, welche diesen Dienst oft seit vielen Jahren verrichten. In diesen Dank eingeschlossen wäre auch die Sanität, die ich zum Glück nicht brauche und alle die vielen Menschen im Hintergrund. Es hat effektiv mehr Helfer als Läufer.

Besonders schön ist die Strecke von Mülchi nach Etzelkofen, wo der Dreiviertelmond sich rot zum Schlafen legt. Wir laufen weiter und bald in ein wunderbar zartes Morgenrot hinein. So gehen Kilometer 40 und die Marathon-Marke vorbei.

In Jegenstorf erreiche ich Kilometer 50 und um 5.10 Uhr laufe ich in Kirchberg ein. Damit habe ich mein minimales Ziel erreicht. Ich kann mir gar nicht vorstellen jetzt aufzugeben. Klar merke ich die Kilometer, aber solange es geradeaus geht, laufe ich rund und in gutem Tempo. Im Kopf habe ich irgendwann auf «Sogno di Volare» geschaltet.

Mit der Verpflegung hingegen ist es sehr schwierig. Mein Magen signalisiert mir einerseits Hunger, andererseits kriege ich nichts runter. Isogetränke stossen mir auf. Mein Gaumen ist zunehmend wund und Speichel fliesst kaum noch. Martin füllt jeweils nach, was ich bestelle, während ich dehne, etwas Brot mümmele oder das Toitoi aufsuche. Dort muss ich aufpassen, dass ich nicht einschlafe. 5 Sekunden die Augen schliessen und ich wäre weg…  

Von Kirchberg weg geht es nun der Emme entlang. Der frühere, berüchtigte Emmedamm, auch Ho-Chi-Minh-Pfad genannt ist saniert und zu einer breiten, velotauglichen Strecke geworden. Ich laufe beflügelt Kilometer um Kilometer. Ich bin selber verblüfft, wie gut das geht. Zwar habe ich mir das Bild, dass ich leicht und locker durch den morgendlichen Wald trabe, immer wieder visualisiert. Aber dass es so gut funktioniert? Ich laufe Kilometer 50 bis 75 nur gerade 2 ½ Minuten langsamer als das 2. Viertel. Ich habe das Gefühl so noch Ewigkeiten laufen zu können, locker und fast schmerzfrei. Mental massiere ich während dem Laufen immer wieder die Stellen, die mich gerade am meisten schmerzen. Ich stelle mir vor, wie Christian, mein Masseur hier mit seinen Stahlfingern arbeiten würde. Es ist erstaunlich, dass ich so wirklich mein Gestell in Schuss halten kann.

Bis ich an einer winzigen Steigung von kaum 30 cm Höhe meinen Schritt nicht kontrolliere. Sofort blockiert mein Bein, ich kann das Knie nicht mehr biegen. Ich muss anhalten, dehnen und die entsprechenden Druckpunkte erwischen. Dieses Mal wirklich, nicht mental. Es tut verdammt weh. Dann geht es zum Glück weiter und bald laufe ich wieder rund. Aber einen kurzen Moment lang fürchte ich, dass es bei Kilometer 65 endet.

Stattdessen trabe ich weiter, immer noch deutlich mehr Laufen als Gehen, doch Steigungen und Gefälle gehe ich nun bewusst. Später treffe ich wieder auf Ändu, ihm lief es anfangs nicht so gut. Nun aber treffen wir uns an den Verpflegungsstationen wieder und bald hat er mich weit abgehängt. Das sind die Qualitäten, die Ultraläufer haben. Durchbeissen auch wenn’s nicht läuft. Chapeau, ich wäre ausgestiegen!  

Zwischen Ichertswil und Bibern hat man eine kleine Extraschlaufe durch den Wald eingerichtet, vermutlich fehlten da ein paar hundert Meter auf die Gesamtstrecke. Gar nicht mein Geschmack, denn es sind letztlich zusätzliche Höhenmeter. Rauf und runter. Andererseits ist es Wald und den habe ich im Kopf ja als Energiequelle abgelegt. Und effektiv ist es schön kühl – inzwischen ist es gegen 10.00 Uhr und der Tag verspricht warm zu werden. Hier ist der einzige Moment, wo ich um ein Haar gemein zu meinem Coach gewesen wäre. Ich habe am vorderen Verpflegungsstand vergessen Wasser zu bestellen, logischerweise hat mein «Butler» dann auch nicht aufgefüllt und ich laufe fast auf dem letzten Wassertropfen in Bibern ein. Gut, es hätte noch gehabt, aber der Gedanke, dass es kein Wasser mehr haben könnte, bereitet mir Kummer. Aber eben: auf 100km kommen garantiert Krisen – die Frage ist nur wann welche. Ich schlucke dankbar etliche Becher Wasser und jegliche bösen Bemerkungen hinunter. Aber eine Weile war ich wirklich in Versuchung Martin vorauszuschicken und mir Wasser entgegenzubringen.

Im Kopf läuft «Chlini Händ» von Kunz. Ein Zeichen, dass es langsam hart wird. «Schritt für Schritt, dr Bärg duruf. … ig gibe sicher nid uf.»

Nach einem kurzen, aber sehr knackigen Aufstieg geht es über 110 m hinunter nach Arch. Diese negativen Höhenmeter geben mir fast den Rest, ich brauche enorm Kraft, um hier einigermassen schmerzfrei runterzukommen. Ich bin heilfroh endlich unten zu sein. Wieder dehnen, die Druckpunkte suchen. Ab Arch versuche ich wenigstens noch einen Kilometer am Stück zu laufen, bevor ich wieder gehen muss. Das gelingt nicht immer. Nach Kilometer 90 bin ich schon froh, wenn ich noch ein paar hundert Meter laufen kann.

Immer wieder schiele ich auf die Uhr – untrügliches Zeichen, dass ich am Anschlag laufe. Mein «perfektes» Traumziel wäre gewesen unter 13 Stunden zu laufen. Das ist ab Arch unrealistisch. Mein «realistisches» Ziel war die Marke von 2019 zu knacken, am liebsten unter 13 Stunden 30. Aber auch alles unter 16 Stunden wäre OK gewesen. Musik kann ich nicht mehr abrufen in dieser Phase. Und wenn ich mich mental nicht mehr antreiben kann, dann ist der Körper zu müde um selber zu laufen.

In Büren sehe ich einen mir bekannten Teilnehmer schon geduscht und mit Medaille um den Hals, während ich mich auf den 90. Kilometer zu kämpfe. Ich weiss nicht, ob mich das in dem Moment mehr motiviert oder frustriert… Plötzlich werden unwichtige Details (zu) wichtig. Und doch: noch habe ich mein Ziel vor Augen. Meine Bestzeit unterbieten.  

Mit jedem Kilometer scheint das realistischer. Ich schaue auf die Uhr, wie wenn es etwas ausmachen würde. Immer wieder laufe ich an. Mal 50 m, mal 200 m. Aber mehr geht nicht mehr, egal, es sind wieder ein paar Sekunden. Zum Glück führt hier der Weg durch schattigen Wald. Ich kann sogar noch ein paar wenige Läufer überholen. Dann die magische Tafel «99 km – 1 km Finish». Ein paar Sekunden für das Foto müssen sein.

Dann ist die Arena in Sichtweite. Martin motiviert mich nun aktiv. Mann, was bin ich froh um ihn. Ein letztes Mal über eine gesperrte Strasse. Ja, liebe Autofahrer, hier komme ich. Breites Grinsen aufsetzen! Stolz breitet sich aus. So jetzt noch 500 m. Komm, Schlussspurt! Ich muss nach 150 m wieder abbrechen. Einige Schritte gehen. Dann wird die Nummer abgelesen, damit man auch ordentlich begrüsst wird. Los jetzt, Martin feuert mich an. Ich laufe los. Biege um die Ecke. Viele Leute jubeln mir zu, meine Frau fotografiert, die Speakerin begrüsst mich, als ob ich ein alter Bekannter wäre, schaut nach wie oft ich schon gestartet bin. Noch 100 m, erster Torbogen – nein, jetzt wird nicht mehr gegangen. Dort ist die Zielline. 50 m. Ziel! Schrei.

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Hansruedi Nyffenegger
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Nachher

Gratulationen und Dank von und an meinen Velobegleiter. Er hat scheinbar wenig gemacht, aber war 100% dabei. Ich habe das sehr geschätzt. Medaille umhängen. T-Shirt fassen. Alkoholfreies Bier. Ein paar Schlucke, mehr geht nicht durch meine WUnde Kehle und mein Magen rebelliert eh gerade.

Dann geht es – möglichst bevor die Muskeln verhärten - die Treppe zur Garderobenebene der Tissot-Arena hoch.

Ich hab’s geschafft in 13:28:11. 7 Minuten 25 Sekunden schneller als 2019. Nach dem dauernden Auf- und Ab in der Vorbereitung bin ich extrem zufrieden.

Das Härteste an einem Ultralauf ist der Weg in die Dusche. Hinsetzen. Duschen mit zitternden Beinen. Zum Glück dieses Mal kein Schüttelfrost aber auch das habe ich schon erlebt. Und danach Kleider anziehen, in die Socken schlüpfen - reine Tortur. In der Garderobe geht es allen gleich und es gibt eine witzige Mischung von Mitleid und Galgenhumor, wenn an sich sportliche Menschen versuchen von der Bank wieder auf die Beine zu kommen, Unterhosen anzuziehen oder geschundene Füsse in Schuhe zu zwängen.

Danach setzen wir uns noch kurz zusammen. Ändu, Martin und meine Frau. Gemäss dem Motto von unserem Lauf-Chat trinken wir anderthalb Biere. Meines ist nämlich zufälligerweise immer noch halb leer…

Glücklicherweise gibt es aus der Tissot-Arena einen Lift ins Erdgeschoss hinunter. Dann fährt mein Auto vor und schon nach wenigen Momenten ist es ein Schlafwagen, bis wir Martin ausladen.

Zuhause heisst es auspacken, dann versuche ich eine Menge von Gratulationen zu beantworten, bis mir die Augen zufallen. Das Nachtessen ist zwar lecker, aber ich habe immer noch einen wunden Gaumen.

Ansonsten habe ich kaum Blessuren. Ein paar Stellen, wo die Haut leicht gescheuert hat, eine kleine Blase, aber ansonsten alles dran.

Den Sonntag verbringe ich damit einen Grossteil von diesem Bericht zu schreiben – und etliche Stunden in Spa und Massage. Hinterher geht ist mir schon viel besser. Denn ein solches Abenteuer will mental und physisch verarbeitet werden.

Schon am Montag geht es mir wieder sehr gut. Kaum noch schmerzende Stellen. Treppe hoch und runter so locker wie nach einem ordentlichen Longjog, bloss komplett ausser Atem, sobald es auch nur einen paar Stufen hochgeht. Aber das gibt sich, denn nun ist zuerst mal etwas Erholung angesagt. Gut, vielleicht ein kurzer Regenerationslauf am Dienstag... mal sehen.  

Hansruedi

 

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