Hansruedi Nyffenegger
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Rom ist vermutlich die Stadt, die ich im Lauf der Jahrzehnte am häufigsten besucht habe. Selten besonders lange aber immer wieder. Wie viele Male bin ich auf der Spanischen Treppe gesessen, wie viele Münzen habe ich in den Trevi-Brunnen geworfen… Ich liebe die Stadt wegen der schieren Menge an kulturhistorisch bedeutenden Bauwerken. Das geordnete Chaos. Die Gelassenheit der Römer, aber auch die Leidenschaft für gutes Essen und ihren Stolz auf die ewige Stadt.  

Die Idee, den Rom-Marathon zu laufen, hatte ich vermutlich seit ich den Film «Spirit of the Marathon 2». Oder seit ich 2018 an einem wunderbaren Sommermorgen einen sonntäglichen Longjog durch die halbe Stadt gemacht habe. Oder… braucht man eigentlich einen Auslöser, um einen Marathon zu laufen?

Die Woche davor war intensiv. Am Freitagabend hatte ich eine öffentliche Präsentation, welche wochenlang in meinem Fokus gestanden war. An den Marathon dachte ich immer nur «zuerst den Vortrag, danach wird gelaufen». So war ich mental eigentlich nicht unbedingt auf Rom eingestellt.

Am Samstag früh klingelte mich der Wecker zu einer 20-minütigen Laufrunde aus dem Bett, bevor es an den Flughafen ging. Am frühen Nachmittag war ich in meinem Hotel in Rom, deponierte mein Gepäck und machte ich mich auf den Weg zur Marathon Expo. Entgegen meiner sonstigen Gewohnheit hatte ich mich dieses Mal nicht so akribisch vorbereitet, wie bei anderen Gelegenheiten – ich hatte schlicht nicht daran gedacht. Also einfach mal schauen, was das Wochenende bringen würde… Ich hatte nicht mal gross die Prognose von RC beachtet sondern beschloss voll auf mein Gefühl zu vertrauen.

Die Expo war von Termini aus per U-Bahn zu erreichen, allerdings liegt sie doch recht weit ausserhalb des Zentrums. Und dann war es von der Metrostation noch 10 Minuten zu Fuss.
Die Expo im Messezentrum war eine der weitläufigsten, die ich bislang erlebt habe. Man wird durch lange Gänge geschleust, dann in den ersten Stock, dann wieder nach unten, einmal rund ums Gebäude... Gefühlt jeder Ausrüster und jede Laufveranstaltung der Welt hat hier einen Stand. Sogar der Kongo-River Marathon drückte mir einen Flyer in die Hand…
Obwohl ich die ganze Prozedur möglichst zügig absolvieren wollte, dauerte es fast eine Stunde, bis ich mit einem orangen Rucksack, der Startnummer, viel zu vielen Flyern, ansonsten angenehm wenigen (eh ja meist nutzlosen) Goodies wieder aus der Messe raus kam.

Per Metro zurück und Kopfschmerztabletten besorgen. Nicht zum ersten Mal vor einem Lauf hatte ich rasendes Hämmern im Schädel.

Ich döste im Hotel und organisierte mir dann eine private Pastaparty – keine Kunst in Italien… So lecker die Pasta auch war: ich kriegte kaum etwas runter, auch wenn ich tagsüber nur wenig gegessen hatte. So stark wie noch selten erwischte mich das Lampenfieber. Mein Ruhepuls war 30 Schläge zu hoch, ich fühlte mich elend vor Aufregung. Nun rächte es sich, dass ich den Marathon immer hinter mener Präsentation «übersehen» hatte.

Die Nacht war ehrlich gesagt nicht allzu erholsam. Aber auch das nichts Neues. Um 5 Uhr klingelte der Wecker und ich würgte meinen Spezial-Porridge runter. Ich weiss auch nicht, wieso ich mir das jedes Mal antue. Vielleicht weil er den Magen so auskleistert, dass ich dann die Isogetränke vertrage? Oder weil ich damit weniger oft auf’s Klo muss?

Der Start zum Marathon war vom OK ein paar Tage vorher um 30 Minuten vorverschoben worden, weil abends noch ein Fussballspiel anstand. So war der Start der Elite auf 8.00 Uhr geplant. Mich wollte man 40 Minuten später auf den Weg schicken.
In den Unterlagen stand aber, dass man nicht später als 7.30 Uhr einchecken sollte. So stand ich – wie viele andere um 7.20 am oberen Ende des Circus Maximus. Und niemand hatte es eilig in den schattig kühlen Startbereich zu gehen. Vielleicht lag es daran, dass hier kein Speaker zu hören war. Ich setzte mich also in die Sonne und wartete. Irgendwann kam ich mit einer deutschen Dame mit 100+ Marathons ins Gespräch. Offiziell war die Startzeit längst durch, aber das bekamen wir hinten gar nicht mit, trotzdem reiten wir uns dann mal ein. Weit und breit übrigens keine Toiletten… Viele erleichterten sich notgedrungen an die nächstbeste Mauer. Unschön, aber da muss sich das OK wirklich bei der Nase nehmen.

Endlich bewegte sich unser Block. Ich hatte bei der Anmeldung als PB eine Zeit von 4:20 angegeben – schliesslich wollte ich schön langsam laufen. Logischerweise wurde ich in den hintersten Block eingeteilt. Da standen aber auch noch jenige Pacer für 5 Stunden oder deutlich länger und zwar weit vor mir. Ich versuchte etwas nach vorne zu kommen, aber die Pacer standen zu nahe beieinander. Zwischen einzelnen Pacergruppen hatten manchmal kaum 100 Leute Platz. Aber sicher nicht die hunderten, die eine ähnliche Zeit anstrebten.

Anders gesagt: wer wie ich mitten im Block stand, stand hinter den langsamsten Pacern der Genuss-Walker.

Offiziell war der Lauf vermutlich längst gestartet. Hinten war davon nichts zu merken. Wir wurden nach und nach ums Kolosseum herumgeführt. Irgendwo waren die Absperrgitter ziemlich eng und es staute. Kaum war man an der Engstelle vorbei begannen alle zu laufen, da nun der Weg frei war. Wo war die Startline? Keine Ahnung, aber hier standen wenigstens ein paar Toitois und lange Schlangen vor dran.

Ich nutzte die nächsten Meter, um ein ganz klein wenig einzulaufen. Denn nach rund 300 m war dann endlich und wirklich die Startline zu finden. Diese überquerte ich mit 18 Minuten Verspätung auf den Plan des OKs.

Der Lauf startete vom Kolosseum Richtung Piazza Venezia. Von Anfang an überholte ich Dutzende von Walkern und viel langsameren Läufern. Ich war – wie offensichtlich viele andere - komplett in der falschen Gruppe unterwegs.

Die ersten Kilometer führten südwärts aus der Stadt hinaus, vorbei an der Cestus-Pyramide. Hier läuft man durch eher ges(ch)ichtslose Vororte, bevor es dann nach rund 9 km wieder zurück in Richtung Stadt ging.

Anfangs stand etwa auf jedem Kilometer eine Kapelle: Heer, Carabinieri, Luftwaffe, Marine, Feuerwehr… In Italien ist der Staat erstaunlich grosszügig darin, derartige Anlässe durch Militär zu unterstützen. In Verona bin ich schon durch eine Kaserne gerannt, mit strammstehenden SoldatInnen.

Immer wieder überhole ich in der ersten Stunde Pacer. 5h30, 5h20, 5h50, 4h50, 5h10. Moment mal… ? Irgendwie verstehe ich das System nicht. Vermutlich sind auch die Farben der Ballone wichtig. Oder warum läuft weiss 4h15 neben 5h10 blau? Aber auch das Tempo 4h15 kann nicht stimmen, ich ziele auf 4h25 bis 4h30, die 4h15 Pacer sind aber klar langsamer unterwegs als ich. Egal. Ich halte mein Tempo möglichst präzise und überhole quasi im Sekundentakt. Oft auch Walker, die vermutlich in einem früheren Startblock geschlüpft sind. Oder überhole ich schon die ersten Erschöpften?

Entlang vom Tiberufer (James Bond Fans erinnern sich…) geht es mal hüben, mal drüben nordwärts. Herkules-Tempel, Tiberinsel. Dann wird der Fluss überquert und man hat einen freien Blick auf die Engelsburg, um dann direkt in Richtung St. Petersplatz zu laufen. Doch kurz vor dem Vatikan biegt man ab, läuft auf vielen Schlaufen durch die Quartiere. Hier erwischt uns kurz ein Regenschauer und ich bin froh, dass ich doch auf einen langärmlichen Pullover und ein Stirnband gesetzt habe. Etliche Läufer frieren gerade erbärmlich, einer bittet an einem Verpflegungsposten um einen leeren Plastiksack um sich gegen den stellenweise unangenehmen Wind zu schützen.

Die Verpflegungsposten sind in angenehm kurzem Abstand verteilt. Wasser, Isogetränke, Kekse, Früchte. Organisiert sind sie sehr unterschiedlich. Einige kommen hinten und vorne nicht nach, die Becher aufzufüllen, andere sind sehr effizient organisiert und man ist sofort versorgt.  

Glücklicherweise habe ich mein Bidon mit dabei,  weise Entscheidung. Ich schaffe es an einigen Posten zügig aufzufüllen und kann dann andere, schlecht organisierte Stationen überspringen. Was nicht so gefällt ist die riesige Abfallmenge, die hier entsteht, durch viele schlecht gefüllte Becher (viele nehmen halt dann gleich drei), durch Wasser in Tetrabricks und hunderte von Schwämmen.

Der Halbmarathon geht locker durch und ab km 27 läuft man durch das Gelände der Olympiade von 1960. Sehr passend und wirklich stimmungsvoll. Ich mache ein paar Bilder und verliere prompt ein paar Sekunden… Egal, es ist ein Genusslauf.

Nach der Milvischen Brücke geht es dann nach und nach zurück, südwärts in die Stadt, natürlich wieder am Tiber entlang. Hier zwickt mich plötzlich mein Knie. Mist. Ich gebe mir eine Minute unrund und mit Stechen im Knie zu hoppeln. Wenn es nicht bessert, werde ich anhalten und massieren. Ich wäre nicht der einzige, viele sind längstens am Wandern. Glücklicherweise legt sich das Stechen sehr schnell. Kein Grund anzuhalten, uff!
Einmal rund um die Piazza del Popolo und dann an der Spanischen Treppe vorbei. Es läuft gut. Klar, nach bald vier Stunden ist man müde, aber kein Einbruch und ich habe mir noch nicht mal die Frage gestellt, was ich hier eigentlich tue. Ich lasse mal etwas die Musik in meinem Kopf an. Positive Gedanken, ein paar nette Worte von Lauffreunden. Beginne diesen Bericht zu schreiben. Es ist einfach toll zu laufen. Ich merke, dass ich im Vorfeld mental nichts gespeichert habe. Keine Zeit gehabt.

Leider kommen dann die eher schmalen Gassen der Altstadt. Hier, wenige Kilometer vor dem Ziel müssen viele gehen. Und da die Strassen so schmal sind, kann man nur mit Mühe überholen, die etwas glatten Pflastersteine und etliche Touristen, die auch noch die Strasse überqueren, machen die Sache nicht einfacher. Ich verliere auf 2 Kilometern 90 Sekunden. Und das liegt nicht daran, dass ich die Sehenswürdigkeiten wie die Piazza Navona zu sehr betrachte.

Endlich werden die Strassen breiter. Ich habe noch einen Kilometer, der Weg geht sogar leicht abwärts. Plötzlich läuft es ganz von selber. Daher haue ich sogar noch einen kleinen Schlussspurt raus, ich fliege förmlich. Sogno di Volare läuft in meinem Kopf, passt perfekt. Um ein Haar hätte ich mitgesungen. Linkskurve und dann ist da die schmale Rampe, die hinunter in den Circus Maximus führt. Viel zu viele Leute vor mir , ich muss meinen Schlussspurt bremsen. Und dann über die Ziellinie. Und in dem Moment zerreisst die Arm-Schlaufe meiner Handy-Hülle.

Die Medaille, welche man bekommt, kostet mich um ein Haar Übergepäck im Flugzeug.  200gr Metall in Form eines Römerschildes. Der Verpflegungsbeutel hingegen ist eher mager, primär das, was man auch an den Verpflegungsposten bekommt.

Auch wenn es ein schöner Frühlingsnachmittag ist, allzu lange mag ich nicht im Zielgelände bleiben. In der Nähe ist eine U-Bahnstation. Die Treppen aus dem Circus hinauf und in die U-Bahn hinunter meistere ich erstaunlich locker.
Erst hier merke ich, dass unterwegs meine Laufhose gerissen ist und die geplatzte Naht etwas gescheuert hat. Nicht schlimm. Einfach ein Souvenier mehr, aber ansonsten keine Beschwerden…Die Wölfin ist ja das römische Wappentier... Aber zum Glück nur in der Mini-Version, nicht der Rede Wert. 

Ich bin bald im Hotel, Dusche, ein verspätetes kleines Mittagessen und nach einem Nickerchen dann ordentliches Nachtessen. Überall in der Stadt orange T-Shirts, orange Rucksäcke, orange Medaillen. Über 26'000 LäuferInnen haben gefinisht.

Am nächsten Morgen früh geht es an den Flughafen. Nachmittags um 14.00 Uhr arbeite ich schon wieder…

Hansruedi